16. Februar 2018
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In meinem letzten Artikel habe ich euch erklärt, wie es zu den unterschiedlichen Begriffen Lese-Rechtschreibstörung, Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und Legasthenie gekommen ist und was genau sie meinen. Ab jetzt gebrauche ich das Wort Legasthenie als Überbegriff für alle Arten von andauernden Lese-Rechtschreibproblemen. Nur wenn ich den Unterschied zwischen dem einen oder anderen Begriff deutlich machen will, nutze ich die jeweiligen Benennungen.

Maja ist in der dritten Klasse. Anlässlich des Halbjahreszeugnisses lädt ihr Lehrer Herr Fuchs die Eltern zu einem Krisengespräch ein: Maja hat massive Probleme beim Lesen und Schreiben, die sich mittlerweile auf ihre gesamten schulischen Leistungen auswirken. Herr Fuchs rät zu einem Legasthenietest. Majas Mutter ist wütend. Bereits zu Beginn der zweiten Klasse hatte sie darauf hingewiesen, dass Maja ungewöhnlich große Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat. Damals hieß es, das sei noch nicht bedenklich und würde sich sicher mit der Zeit geben. Auch am Ende der zweiten Klasse wurden Majas Probleme noch kleingeredet. Nun heißt es plötzlich, Majas Versetzung in die vierte Klasse sei gefährdet.

Lerntherapeuten erleben solche Situationen sehr oft: Viele Kinder werden zu spät zur Überprüfung bzw. zur Lerntherapie angemeldet. Nicht selten ist es dann unvermeidlich, dass die betroffenen Kinder eine Klassenstufe wiederholen. Die allgemeine Auffassung, Kinder könnten erst ab der dritten Klasse valide auf Legasthenie hin überprüft werden, hält sich in den Schulen hartnäckig, ist aber so nicht tragfähig.

Im Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2003/2007 ist zu lesen, es sei

„wichtig, Lernschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen, um mit der Förderung möglichst frühzeitig beginnen und einen individuellen Förderplan entwickeln zu können. Grundlage für die förderdiagnostische Tätigkeit ist die Beobachtung

  • des sprachlichen, kognitiven, emotional-sozialen und des motorischen Entwicklungsstands,
  •  der Lernmotivation im Lesen und Schreiben und
  • der Wahrnehmungsleistungen und -kompetenzen der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers mit besonderen Lernschwierigkeiten.

Daher ist die Beobachtung der Lernausgangslage, insbesondere in der Klassenstufe 1, von besonderer Bedeutung.“ [1]

„Augen auf von Anfang an“ bedeutet also, dass ihr bereits in der Schuleingangsphase anfangt, die Lese- und Schreibkompetenzen der Kinder bewusst in den Blick zu nehmen. Euer Rüstzeug für die Wahrnehmung erster Anzeichen von Legasthenie ist eure Kenntnis darüber, wie diese Anzeichen aussehen können. Davon handelt dieser Artikel. Eine Checkliste soll euch dabei helfen, auf die richtigen Symptome zu achten und eure Beobachtungen ohne großen Aufwand zu protokollieren.


Auffälligkeiten beim Lesen

Bei leseschwachen Kindern lassen sich oft schon nach drei Monaten Beschulung deutliche Leistungsdifferenzen im Vergleich zu anderen Kindern feststellen. Sie können beispielsweise Buchstaben nicht richtig benennen oder ordnen ihnen die falschen Laute zu.

Dies fällt besonders bei Buchstaben auf, die klangähnlich sind oder ein ähnliches Schriftbild aufweisen (b/p, g/k, d/t, f/w, b/d). Leseschwache Kinder schaffen es trotz größter Anstrengung nicht, Buchstaben zu Silben zu verschleifen und sprechen stattdessen jeden Buchstaben einzeln aus (H – a – s – e statt Ha -se). Wenn dies übermäßig lange andauert, ist die phonologische Bewusstheit nachhaltig beeinträchtigt. [2] Hier besteht bereits dringender Handlungsbedarf, z.B. in Form eines Silbenlesetrainings.

Im weiteren Verlauf des ersten Schuljahres fällt es legasthenen Kindern schwer, Wörter richtig zu entziffern. Neue Wörter lernen sie nur mühsam, Pseudowörter können sie kaum erlesen.

Hinzu kommt, dass sie zu langsam lesen und ihr Tempo nicht steigern können. Mit Übungen zum Lesen von Pseudowörtern könnt ihr besonders gut herausfinden, welche eurer Schülerinnen und Schüler leseschwach sind: Hier erweist sich, ob die Buchstaben den Lauten korrekt zugeordnet werden können und ob ein sinnvolles Verschleifen zu Silben und Wörtern gelingt.

Leseschwache Kinder stocken häufig beim Lesen, verlieren die Textzeile oder lassen ganze Zeilen aus, vertauschen Wörter oder erfinden welche hinzu.  Sie erreichen nicht die notwendige Mindestgeschwindigkeit im Lesefluss, die zur Erschließung von Textsinn nötig wäre. Ihre gesamte Konzentration benötigen sie für das Entziffern einzelner Wörter, schlimmstenfalls von einzelnen Buchstaben. Nach Textinhalten gefragt, bleiben sie gern allgemein oder denken sich etwas aus. Angesichts dieser Probleme verwundert es nicht, dass legasthene Kinder (Vor-)Lesesituationen tunlichst vermeiden.


Auffälligkeiten beim Schreiben

Auffälligkeiten beim Schreiben

Für das Schreiben gilt Ähnliches. Egal, wie oft sie einen Buchstaben ansehen oder ein Wort lesen, Legastheniker können sich die richtige Schreibweise offenbar einfach nicht merken. Buchstaben werden spiegelverkehrt geschrieben, Wörter werden „verstümmelt“, manchmal bis zur Unkenntlichkeit („Wortruinen“/Skelettschreibweise: BT statt Brot). Diese Schreibungen halten sich bei legasthenen Kindern ungewöhnlich lange.

Wie beim Lesen bereiten die ähnlich klingenden Laute besondere Schwierigkeiten. Je nachdem, ob eher die auditive oder die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt ist, wird beispielsweise das b mit einem p verwechselt (Raube statt Raupe) oder mit einem d (bu statt du).


Gern vertauschen Legastheniker auch Buchstaben oder Buchstabengruppen in ihrer Reihenfolge: Schaurbe statt Schraube.

Konsonantenverbindungen (Br (Brot), rm(Wurm)) sind ebenfalls eine schwierige Hürde.

Legasthene Kinder können akustisch zwischen kurzen und langen Vokalen sehr schlecht unterscheiden.
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Da sich das kurze i oft wie ein e oder ö anhört, wird es auch gern so verschriftet. Ähnliche Schwierigkeiten bereiten die Vokale o und u.

Lautgetreues Schreiben hält bei Legasthenikern oft bis zur dritten Klasse noch an. Die orthografischen Regeln bereiten ihnen große Schwierigkeiten. Gleiches gilt für morphologische Zusammenhänge (z.B. Wortbausteine). Beispiel: Fahrrad und fahren enthalten beide den Wortstamm ‚fahr‘ und werden daher mit -h- geschrieben. Das bedeutet, dass legasthene Kinder deutlich weniger Strategien nutzen können als andere Kinder. Mit der korrekten orthografischen Schreibweise haben sie oft auch als Erwachsene noch massive Probleme.

Schwache Schreiber trauen sich deutlich weniger zu als starke Schreiber. Sie gehen Schreibsituationen möglichst aus dem Weg oder produzieren deutlich weniger Text als andere. Ihnen fehlt die Motivation, weil sie meist mit negativen Reaktionen auf ihre Texte zu rechnen haben. In manchen Fällen wird gar die Grundbegabung des Kindes in Zweifel gezogen. Im schlimmsten Fall kommt der Spott der Klassenkameraden noch erschwerend dazu.

Oft hilft es hier schon, wenn ihr eure Schülerinnen oder Schüler ermutigt weiterzuschreiben oder sie für ihre Phantasie lobt, ohne die Schreibfehler zu thematisieren. Ihr solltet nicht unterschätzen, welche Auswirkungen es hat, wenn Kinder ihre Schreibideen nicht entwickeln und zu Papier bringen können: Es hat zur Folge, dass sie auch im Hörverstehen und im mündlichen Erzählen deutliche Schwächen ausprägen. Sie verstehen nicht nur geschriebene Textinhalte schlechter, sondern auch solche, die ihnen erzählt werden. Wenn sie selbst etwas erzählen sollen, haben ihre Geschichten einen geringeren Wortschatz und sind weniger ideenreich und logisch als die nicht-legasthener Kinder. [4]

Legasthenie wirkt sich also nicht nur auf das Lesen und Schreiben aus, sondern es beeinträchtigt die gesamte Lernentwicklung eines Kindes, im Übrigen auch in anderen Fächern, bis zum Schulabschluss und darüber hinaus.


Verhaltensauffälligkeiten

Auch das Verhalten kann Aufschluss darüber geben, ob es ratsam ist, ein Kind auf eine mögliche Lese-Rechtschreibschwäche hin zu überprüfen. Kinder mit massiven Lese- und Schreibproblemen bilden häufig (je nachdem, wie im Elternhaus damit umgegangen wird oder wie sensibel sie sind) Verhaltensauffälligkeiten aus, die aus der seelischen Belastung resultieren.

Sie klagen z.B. über Bauch- oder Kopfschmerzen, gehen nicht gern zur Schule oder verweigern den Schulbesuch ganz. Sie“ winden sich“ aus Lese- und Schreibsituationen heraus (gehen z.B. unverhältnismäßig oft während des Unterrichts auf die Toilette oder lenken sich und andere ständig ab). Im weiteren Verlauf können die betroffenen Kinder je nach Typ ein zunehmend aggressives oder depressives Verhalten entwickeln. Diese Sekundärsymptome solltet ihr unbedingt ernstnehmen!


Legasthenie und Sprachentwicklungsstörungen/ Legasthenie und ADHS

In zahlreichen Studien wurde untersucht, in welchem Verhältnis die Legasthenie zusammen mit anderen Auffälligkeiten auftritt. Heute wissen wir, dass Kinder mit Legasthenie in 30-50% der Fälle zugleich unter einer Sprachentwicklungsstörung litten oder leiden. Umgekehrt prägen ca. 50% der Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung später eine Legasthenie aus. [5] Wenn also eure Neuankömmlinge in Klasse 1 bereits Probleme bei der Sprachentwicklung hatten (bei den Eltern erfragen!), solltet ihr sie besonders im Auge behalten und frühzeitig auf eventuelle Probleme beim Lesen und Schreiben reagieren.

ADHS und Legasthenie treten ebenfalls nicht selten zusammen auf. Die statistischen Zahlen schwanken zwischen 15% und 40%. [6]  Wenn ihr bei einem Kind typische Anzeichen einer ADHS wahrnehmt, kümmert euch bitte nicht nur um diese „Baustelle“, sondern zieht zugleich die Möglichkeit einer damit einhergehenden Legasthenie in Betracht.

Übrigens: Auch Legasthenie und Dyskalkulie assoziieren stark miteinander. Längsschnittstudien mit großen Stichproben ergaben, dass zwischen 25% und 40% der leistungsschwachen Leser und Rechtschreiber zugleich in Mathematik große Probleme hatten. Umgekehrt belegen Studien, dass bei 64% der Kinder mit einer Rechenschwäche zusätzlich eine LRS vorliegt [7]  ̶  tauscht euch bei einem Legasthenieverdacht also am besten unmittelbar mit dem Mathematikkollegen/der Mathematikkollegin aus!

In meiner Checkliste habe ich euch noch einmal stichwortartig zusammengefasst, worauf ihr – von Anfang an! – achten könnt und solltet. Ihr könnt sie als ein erstes Beobachtungsinstrument nutzen, um ohne viel Aufwand Entwicklungsauffälligkeiten festzuhalten.

Bei euren Beobachtungen solltet ihr unbedingt auch das soziale Umfeld des Kindes mit einschließen. Wichtig ist, dass ihr eine Idee davon habt, ob und wie das Kind zu Hause unterstützt wird. Von den Eltern erhaltet ihr zudem wichtige Informationen zur vorschulischen Entwicklung des Kindes: Hatte es eine oder mehrere Mittelohrentzündungen (ein starker Prädiktor für auditive Wahrnehmungsstörungen)? Wie war die Sprachentwicklung? War das Kind in logopädischer Behandlung? Gibt es Befundberichte, die ihr einsehen könnt? Wurde ein Hörtest/Sehtest gemacht? Gab oder gibt es motorische Auffälligkeiten oder Konzentrationsprobleme? Gab oder gibt es soziale Krisensituationen in der Familiengeschichte (Scheidung, Todesfall o. Ä.)?

Versucht eventuell auch, mit ehemaligen Erzieherinnen in einen Austausch zu kommen und etwas über die vorschulische Entwicklung des Kindes zu erfahren. Oft gibt es informative Portfolios zu den Kindern, in denen ihre Entwicklung über die Kindergartenzeit hinweg dokumentiert wurde. Wie ist nach Einschätzung der Erzieherinnen die phonologische Bewusstheit des Kindes ausgeprägt? Wurde sie gefördert oder gar getestet? Gab es Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung oder im Sozialverhalten?


Ich hoffe, ihr seid jetzt gut gewappnet und wisst, worauf ihr von Anfang an bei euren Erstklässlern achten solltet. Die Checkliste hilft euch, dass ihr nichts außer Acht lasst.

Im nächsten Artikel erfahrt ihr mehr über die Lernvoraussetzungen, die Kinder mit in die Schule bringen sollten, und welche Diagnose- und Förderverfahren sich für diese Schulanfangsphase bewährt haben.  Ich freue mich auf eure Kommentare und Fragen!

Herzlichst

Anja Ley

Checkliste downloaden


[1] KMK-Beschluss: Grundsätzen zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen (2007),
URL:  https://www.bvl-legasthenie.de/images/static/pdfs/KMK_120403-Lese-Rechtschreibschwaeche_KMKBeschluss2007.pdf,
Zugriff: 19.11.2017

[2] Vgl. Schulte-Körne (2014), S. 53, und Klicpera et al. (2017),
S. 153

[3] Vgl. Klicpera et al. (2017), S. 160f., und Schulte-Körne (2014),
S. 54

[4] Ebd., S. 162

[5] Vgl. Reber, K. (2017): Prävention von Lese- und Rechtschreibstörungen im Unterricht. Systematischer Schriftspracherwerb von Anfang an.
München: Reinhardt Verlag; Klicpera et al. (2017), S. 143

[6] Reber (2017), S. 29; Klicpera et al. (2017), S. 143

[7] Klicpera et al. (2017), S. 142

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