LRS – eine Orientierungsreise durch den Begriffsdschungel
Frau Kolz ist Deutschlehrerin in der dritten Klasse einer Grundschule. Heute, am Montagmorgen, steht sie im Lehrerzimmer und hält in ihrer linken Hand den Befundbericht eines Kinder- und Jugendpsychologen: Ihre Schülerin Sina hat demnach eine Lese-Rechtschreibstörung.
In der rechten Hand wiederum hält Frau Kolz ein weiteres Gutachten, diesmal von der Praxis für Lerntherapie im Ort: Ihr Schüler Jan soll eine Lese-Rechtschreibschwäche haben. Zu allem Überfluss ruft nun auch noch Murats Mutter an: Frau Kolz solle bitte einmal überprüfen, ob Murat nicht vielleicht Legastheniker sei.
Frau Kolz ist verwirrt: drei Begriffe, drei verschiedene Störungen? Oder haben alle drei Kinder letztlich dasselbe Problem? Und wie soll Frau Kolz das fachlich korrekt beurteilen?
Im Internet werden die Begrifflichkeiten scheinbar willkürlich definiert. Ratgeberliteratur in Buchform gibt es reichlich, doch welche Literatur ist die richtige? Und wo findet Frau Kolz, was sie für den Umgang mit Sina, Jan und Murat im Unterricht wirklich benötigt?
Unsere Blog-Artikelreihe „Legasthenie/LRS bei Grundschulkindern“ setzt genau hier an. Hier findet ihr Grundlagenwissen und bekommt gleichzeitig einen professionellen Zugang zum Thema Legasthenie/LRS in der Grundschule.
Im ersten Artikel erhaltet ihr einen Überblick, wie die verschiedenen Begriffe rund um Lese- Rechtschreibprobleme entstanden und zu interpretieren sind. Ihr erfahrt etwas über die ersten Schritte, die ihr gemeinsam mit den Eltern einleiten könnt und solltet, wenn sich bei eurer Schülerin/eurem Schüler der Verdacht auf eine LRS ergibt.
Weitere, demnächst folgende Artikel befassen sich mit spezifischen LRS-Symptomen (inklusive Checkliste), dem Nachteilsausgleich und der Leistungsbewertung von LRS-Kindern, den Grundbausteinen effektiver LRS-Förderung und mit den Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit Eltern und Therapeuten.
Das dem Artikel anhängende PDF-Dokument stellt den aktuellen Forschungsstand zum Thema Legasthenie/LRS dar. Für „Eilige“ gibt es darunter eine kleine Zusammenfassung, die ebenfalls das oben angesprochene „Begriffschaos“ auflöst.
Legasthenie/LRS – wie ist sie definiert?
Wer oder was ein Legastheniker/LRS-Schüler ist, hängt davon ab, wer die Diagnose stellt. Für die medizinisch motivierte Diagnostik ist der Begriff der Legasthenie/LRS als einer Lese-Rechtschreibstörung zentral. Dabei handelt es sich laut WHO um eine krankheitswertige umschriebene Entwicklungsstörung, die genetische bzw. neurobiologische Ursachen hat und nicht auf eine mangelhafte Beschulung, auf Hör- oder Sehschädigungen, auf Hirnschädigungen oder auf familiäre, psychische und soziale Probleme zurückzuführen ist. Auch muss eine messbare Diskrepanz zwischen der allgemeinen Intelligenz des Kindes und seiner Lese-Rechtschreibkompetenz vorliegen. Beide Leistungswerte werden mit normierten Testverfahren ermittelt und zueinander in Beziehung gesetzt.
Mit dieser Herangehensweise werden aber allgemein lernschwache Kinder und Jugendliche mit niedrigeren IQ-Werten von der LRS-Definition ausgeschlossen. Vor allem die Diskrepanz-Definition im Zusammenhang mit dem Intelligenzquotienten ist seit langem im Fokus der Kritik. Pädagogen und Deutschdidaktiker bemängeln, dass zu viele Schüler und Schülerinnen mit diesem Verfahren ausgegrenzt werden, die aber erwiesenermaßen von einer LRS-Förderung profitieren würden, und das bei identischen Methoden und Inhalten.
Daher kommen Pädagogen und Didaktiker zu einer anderen Definition, wenn es um Probleme beim Lesen und Schreiben geht. Für sie ist die Legasthenie gleichzusetzen mit einer Lese-Rechtschreibschwäche oder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten.
Hiervon betroffen sind all diejenigen, die nachhaltige Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen haben, unabhängig von ihrem Intellekt.
Der Blick richtet sich also ausschließlich auf die Symptome und nicht auf die Ursachen, die vielfältig, sowohl genetisch-neurobiologisch als auch sozial, familiär, psychisch oder schulisch sein können.
Um die Lese-Rechtschreibschwäche optimal bekämpfen zu können, braucht es die richtige Beschulung, sprich eine Passung zwischen Lernausgangslage (Lernstand) und Lernangebot.
Der Deutschdidaktik ist zu verdanken, dass heute gut erforscht ist, wie Kinder lesen und schreiben lernen und welche besonderen Probleme bei schwachen Lesern und Schreibern auftreten. Aus diesen Erkenntnissen heraus können effiziente Angebote für eine effektive Förderung konzipiert werden. Wenn es um den Inhalt und die Methodik der Fördermaßnahmen eines von LRS betroffenen Kindes geht, sind sich aber Mediziner und Pädagogen wieder einig: Beide Akteure setzen bei den Symptomen an und befürworten in der Regel dieselben Maßnahmen auf der Basis wissenschaftlich evaluierter Förderkonzepte.Es ist also letztlich gleichgültig, welchen „Stempel“ Sina, Jan und Murat erhalten haben – sie können und müssen mit denselben Fördermaßnahmen unterstützt werden.
Die Diagnose einer LRS wird von Kinder- und Jugendpsychologen auf Kosten der Krankenkassen durchgeführt und enthält je nach Grundhaltung einen Intelligenz-Leistungsvergleich oder nicht. Alternativ überprüfen Lerntherapeuten die Kinder kostenpflichtig auf eine Lese-Rechtschreibschwäche. Egal, von wem ihr als LehrerInnen einen Befundbericht erhaltet, ihr werdet ihm in jedem Fall wertvolle Informationen bezüglich des Lern- und Leistungstandes und der allgemeinen Entwicklung eurer Schülerin oder eures Schülers entnehmen können.
Legasthenie/LRS-Verdacht – was tun?
Im Falle eines LRS-Verdachts sind zunächst folgende Schritte wichtig:
1. Überprüfung durch Fachleute in die Wege leiten
Legt den Eltern nahe, dass sie ihr Kind entweder bei einem Kinder- und Jugendpsychologen (mit Überweisung vom Hausarzt und entsprechender Kostenübernahme) oder in einer lerntherapeutischen Praxis (ohne Kostenübernahme) auf eine LRS untersuchen lassen. Eine solche Untersuchung sollte nicht erst in der dritten oder vierten Klasse erfolgen, sondern so früh wie möglich. Dies kann bei schwerwiegenden Problemen schon am Ende der ersten Klasse geschehen.
2. Hör- und Sehvermögen abklären lassen
Für den Fall, dass dies nicht bereits abgeklärt wurde, ist es unbedingt notwendig, parallel das Seh- und Hörvermögen des Kindes ärztlich testen zu lassen. Es kommt nicht selten vor, dass eine Schwäche in einem der Bereiche zu spät erkannt wird und dadurch massive Probleme beim Lesen und Schreiben entstehen, die einfach durch eine Lesebrille oder ein Hörgerät hätten vermieden werden können. Manche Kinder haben so gute Kompensationsstrategien entwickelt, dass ihre Defizite im Sehen oder Hören erst viel zu spät auffallen.
3. Den Landeserlass Deines Kultusministeriums zu Rate ziehen
Ihr wisst nun, warum in den Befundberichten teils von Lese-Rechtschreibstörung und teils von Lese-Rechtschreibschwäche die Rede ist, und könnt einen eigenen Standpunkt hierzu entwickeln. Egal, welchem Ansatz ihr persönlich nähersteht, jeder Befundbericht, mit oder ohne Intelligenztest, enthält detaillierte Informationen, die euch Aufschluss über die Lese- und Schreibkompetenz, aber auch über andere wichtige Aspekte der kindlichen Entwicklung geben.
Wichtig ist: Ausschlaggebend dafür, ob ein Schüler/eine Schülerin als LRS-SchülerIn schulisch anerkennt wird oder nicht, ist der Landeserlass eures Kultusministeriums zu diesem Thema. Hier gelten unterschiedliche Regelungen, angefangen von der Frage, ob Lese-Rechtschreibstörung oder -schwäche als Fachterminus gilt, bis hin zur Festlegung, welche konkreten Maßnahmen und Hilfsmittel ihr für einen Nachteilsausgleich dieser Schüler anbieten könnt oder gar müsst. Auf der Basis dieses Erlasses legt ihr idealerweise im Schulteam klassenübergreifend fest, wie ihr mit dem Thema LRS-/Legasthenie umgehen wollt, und erstellt einen einheitlichen Handlungsplan mit den Kolleginnen und Kollegen.
Nach der Eingangsdiagnostik folgt die Förderdiagnostik, also die Festlegung der jeweiligen Methoden und Lerninhalte für die einzelnen Schüler und Schülerinnen. Hier spielt die Frage, ob nun eine „klassische“ Lese-Rechtschreibstörung oder eine Lese-Rechtschreibschwäche vorliegt, keine entscheidende Rolle mehr, denn alle Schülerinnen und Schüler, egal wie intelligent sie sind, profitieren von den Fördermaßnahmen und sprechen auf dieselben Konzepte an.
Im kommenden Artikel erfahrt ihr, welche typischen Symptome bzw. konkreten Schwierigkeiten Kinder mit einer LRS haben und welche schulrechtlichen Möglichkeiten ihr habt, um diesen Kindern zu helfen.
Ich freue mich auf eure Kommentare und Fragen!
Herzlichst
Anja Ley
2 Kommentare
Hallo Frau Ley,
inwieweit haben Eltern zu befürchten, dass ihr Kind mit einer LRS-Diagnose von der Regelbeschulung ausgeschlossen wird und in die Förderschule wechseln muss?
Hallo Frau (?) Kriegel,
eine LRS-Diagnose hat keine automatische Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs zur Folge. Dies sind zunächst zwei völlig getrennte Themen. Sie können aber unter bestimmten Umständen durchaus zusammenkommen. Auf diese Umstände möchte ich gern näher eingehen. Dazu konstruiere ich drei verschiedene Ausgangssituationen:
Situation 1: LRS und allgemeine Lernschwäche gehen einher.
Das bedeutet, dass die allgemeine Auffassungsgabe geringer ist und (von Anfang an) in allen Fächern Lernschwierigkeiten bestehen. (Dies wird meist mit einem Intelligenztest überprüft.) In diesem Fall wäre eindeutig klar, dass ein sonderpädagogischer Förderbedarf angemessen und notwendig ist, damit der betroffene Schüler/die betroffene Schülerin ihrem grundlegenden Potential entsprechend beschult und nicht permanent überfordert wird. Welche Schulform hier die geeignetste ist, wäre abhängig von den individuellen personellen, sächlichen und räumlichen Voraussetzungen der Schulen vor Ort. Manchmal ist eine Förderschule oder ein Förderzentrum wesentlich besser ausgestattet und daher besser für die Förderung Ihres Kindes geeignet als eine Regelschule.
Situation 2: Es liegt eine klassische Lese-Rechtschreibstörung vor.
Dies bedeutet, trotz der Beeinträchtigungen im Lesen und/oder Schreiben ist die allgemeine Auffassungsgabe mindestens durchschnittlich. In diesem Fall greift der Legasthenie-Erlass Ihres Landes und es müssen alle Maßnahmen zum Nachteilsausgleich und auch sonst alle Fördermaßnahmen der jeweiligen Schule ausgeschöpft werden, denn Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung sind eben keine Kinder mit allgemeiner Lernbeeinträchtigung. Sie erhalten eine „besondere Förderung“, aber keine „sonderpädagogische Förderung“. Sie sollten mit dem Schulteam sprechen und darauf hinwirken, dass die Schule, falls noch nicht geschehen, sich ausführlich mit dem Thema LRS beschäftigt und die gebotenen Maßnahmen des Landeserlasses umsetzt. Für Sie selbst empfehle ich in dem Fall aber dringend auch eine außerschulische LRS-Förderung, denn meist sind die Defizite schon so groß, dass eine reine Schulförderung dies kaum auffangen kann.
Situation 3: Die Lese-Rechtschreibstörung hat sich bereits auf alle Schulfächer negativ ausgewirkt.
Wie in der 2. Situation liegt also eine mindestens durchschnittliche Grundbegabung zugrunde. Die LRS wirkt sich aber dennoch auf alle Fächer aus und Ihr Kind hat allgemein den schulischen Anschluss verloren, weil beispielsweise die Aufgaben nicht richtig gelesen werden können, Ihr Kind sich schriftlich nicht angemessen ausdrücken kann oder das Schriftbild unleserlich ist etc. Dies ist meist der Fall, wenn die Lese-Rechtschreibstörung erst sehr spät erkannt worden oder bislang (unter Umständen weder zu Hause noch in der Schule) keine hinreichenden Fördermaßnahmen durchgeführt worden sind.
Dies ist nun eine besonders schwierige Situation, weil die Voraussetzungen für die Überprüfung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs grundsätzlich gegeben sind. Auch hier gilt es für Sie, darauf hinzuwirken, dass zunächst ALLE Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und ALLE besonderen schulischen Förderangebote für Schülerinnen und Schüler mit LRS ausgeschöpft werden. Wenn dies alles bereits berücksichtigt worden ist, ohne dass erkennbare Erfolge zu verzeichnen wären, dann kann über eine sonderpädagogische Begleitung gemeinsam nachgedacht werden. An dieser Entscheidung sollten Sie unbedingt beteiligt werden! Die Regelungen und auch Ihr persönliches Mitspracherecht sind von Land zu Land unterschiedlich. In dieser recht verfahrenen Situation sollten Sie einer sonderpädagogischen Förderung gegenüber erst einmal aufgeschlossen sein, denn Ihr Kind bekommt dann deutlich mehr Unterstützung in der Schule als bisher und dadurch auch wieder eine Chance, seine Defizite aufzuholen. Beharren Sie aber auf einen differenzierten Umgang mit dem Thema. Das bedeutet zum einen, wenn Ihr Kind eine sonderpädagogische Förderung bekommt, muss diese nicht zwangsläufig generell in allen Fächern Anwendung finden. Gibt es Fächer, in denen die Leistungen in Normbereich liegen, dann sind hier keine Fördermaßnahmen erforderlich. Das können Sie geltend machen. Zum anderen ist eine sonderpädagogische Förderung nicht automatisch für die gesamte schulische Laufbahn festgeschrieben. Wenn Ihr Kind seine Leistung verbessert, kann dieser Förderbedarf auch wieder aufgehoben werden. Bleiben Sie unbedingt im Gespräch und tauschen Sie sich regelmäßig über die Lernentwicklung Ihres Kindes aus. Sorgen Sie auch sofort für eine außerschulische Lernbegleitung.
Abschließend zur Frage nach einem Schulwechsel bei sonderpädagogischem Förderbedarf:
Wenn Ihr Kind k e i n e allgemeine Lernschwäche hat, dann ist es besser, wenn es in der allgemeinbildenden Schule bleibt, weil Ihr Kind dann weiterhin sein gewohntes Umfeld hat und die eben beschriebene Fächerdifferenzierung möglich ist. Auch die Rücknahme des Förderbedarfs wäre hier um ein Vielfaches einfacher. Ob die Schule Ihr Kind nach Feststellung des Förderbedarfs behält, hängt von den eigenen personellen, sächlichen und räumlichen Voraussetzungen ab. Wenn die Schulleitung aufgrund mangelnder Voraussetzungen meint, die Förderung nicht angemessen leisten zu können, kann die Überstellung in ein sonderpädagogisches Förderzentrum oder eine Förderschule erwogen werden. Hier haben Sie als Eltern in manchen Bundesländern aber ein Wahlrecht. Sollte diese Erwägung im Raum stehen, können Sie auch darauf hinwirken, dass Ihr Kind in eine andere allgemeinbildende Schule des Ortes wechselt, die bessere Voraussetzungen hat. Dazu müssten Sie unter Umständen einen Antrag beim Schulamt mit Begründung stellen. Aber das wäre dann im Einzelfall zu klären.
Ich hoffe, meine Ausführungen haben Ihnen geholfen. Gern können Sie mich für Ihren speziellen Fall auch per Mail kontaktieren. Dann kann ich Sie noch präziser beraten.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Vorweihnachtszeit!
Herzlichst
Anja Ley
(anja-ley@email.de)