16. Juli 2018
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Ursachen einer LRS/Legasthenie

Gerade letzte Woche habe ich es wieder erlebt: Ich habe die Sonderpädagogin einer Gesamtschule gefragt, ob es an ihrer Schule ein Konzept für den Umgang mit Legasthenie gebe. Sie antwortete, nein, es gebe kein Konzept und sie halte auch nichts davon, denn die Schüler würden sich mit einer solchen Zuschreibung nur allzu schnell auf dieser Schwäche ausruhen. Wenn sie nur genug übten, würden sie schon Fortschritte machen.

Solch eine Einschätzung hören Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten leider sehr oft von Eltern und bedauerlicherweise auch von Lehrerinnen und Lehrern. Aber Legastheniker sind weder faul noch dumm. Sie können ihre Defizite nicht einfach durch mehr Üben aufholen.

Die Ursachen einer Legasthenie sind vielfältig. Meist ist ein Zusammenspiel von biologischen Faktoren, entwicklungsbedingten Lernvoraussetzungen und Umwelteinflüssen wie Elternhaus, schulischer Unterricht etc. dafür verantwortlich. Dies macht deutlich, wie wichtig es ist, dass Eltern und Lehrer(innen) darüber aufgeklärt werden, wie sie ein lese- und rechtschreibschwaches Kind optimal unterstützen können.


Biologische Ursachen

Werfen wir mal einen Blick auf die neueren Erkenntnisse der Neurobiologen, wie das Gehirn eines Menschen mit einer spezifischen Lese-Rechtschreibstörung im medizinischen Sinne im Vergleich zu einem nicht-beeinträchtigten Menschen funktioniert:

Wie kann es sein, dass Leon auch nach dem gefühlten hundertsten Mal Lesen das Wort „aber“ immer noch nicht erkennen kann? Stattdessen muss er es mühsam Buchstabe für Buchstabe entziffern. Darauf haben Wissenschaftler jetzt eine plausible Antwort gefunden. Leons Gehirn macht nicht das, was es machen sollte. Nun gibt es im Gehirn keine spezielle „Lese- oder Schreibregion“.

Beim Lesen und Schreiben arbeiten unterschiedliche Regionen des Gehirns mehr oder weniger gut zusammen. Beim Legastheniker eben weniger gut. Auch kommt es vor, dass bestimmte Nervenzellen aufgrund veränderter Gene sich nicht gut genug ausbilden oder eine Verbindung mit den passenden Nervenzellpartnern verweigern. Dies hat zur Folge, dass die für das Lesen und Schreiben verantwortlichen Partnerregionen im Gehirn weniger aktiv sind bzw. weniger effektiv arbeiten. Bei normalen Lernerinnen und Lernern bestehen zwischen dem visuell verarbeitenden Hirnareal und den auditiv verarbeitenden Arealen starke synaptische Verbindungen von Nervenzellen, die alle gleichzeitig repetierend aktiv sind.

Durch das ständige Wiederholen beim Lesen und Schreiben bilden sich diese Strukturen immer weiter aus und festigen sich. Neurowissenschaftliche Studien konnten belegen, dass bei Legasthenikern eben diese Verbindungen unter Umständen kaum oder gar nicht vorhanden sind. Insgesamt wurde festgestellt, dass Legastheniker zwar prinzipiell die gleichen Hirnregionen für das Lesen und Schreiben nutzen, die Aktivitätenmuster in den Hirnregionen aber völlig anders aussehen.

Die Funktionsbeeinträchtigungen der verschiedenen Hirnregionen haben bereits beim Sprechenlernen Auswirkungen auf die Phonologische Bewusstheit und auf die auditive Wahrnehmung, die besonders wichtig für das Lesen ist, auf die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit, die entscheidend für das Schreiben ist, und schließlich auf die Gedächtnisleistung, die für beide Kompetenzen relevant ist. Legastheniker können ein Wort noch so oft üben, ihre mentalen Prozesse verhindern oder erschweren zumindest das Wiedererkennen von Wörtern und ihren Schreibweisen, weshalb ein rein wiederholendes Üben oft so aussichtslos ist.[1]


Genetische Faktoren

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Mediziner[2] auf die Häufung von Leseschwierigkeiten innerhalb einer Familie aufmerksam. In den 70er Jahren begannen Forscher, dieses Phänomen genauer unter die Lupe zu nehmen, und führten seither zahlreiche Untersuchungen und Studien in Familienverbänden und vor allem an Zwillingen durch.[3]  Es erwies sich, dass bei einem Legastheniker etwa 50% der Eltern und Geschwister ebenfalls Legastheniker waren.[4] Heute geht man von einer Erblichkeitsrate für Leseschwierigkeiten zwischen 50 und 60% aus. Bei den Rechtschreibleistungen liegt sie sogar bei 60 bis 70%.[5] Der genetische Einfluss auf die Lesekompetenzen nimmt im Erwachsenenalter immer mehr ab. Dies gilt allerdings nicht für die Rechtschreibkompetenzen.

Daraus lässt sich schließen, dass ihr in der Schule durch eine nachhaltige Wortschatzarbeit, durch das kontinuierliche Training mündlicher Gesprächskompetenzen und durch ein gutes Literarisierungskonzept genetische Prädispositionen relativieren und insbesondere die Leseleistungen eurer Schülerinnen und Schüler verbessern könnt.[6] Die Forschung hat mittlerweile sogar konkrete für legasthene Störungen verantwortliche Chromosomen identifiziert.

Der Mediziner und Legasthenieforscher Schulte-Körne erhofft sich für die Zukunft, dass Risikokinder dadurch bereits weit vor der Schulzeit identifiziert und in ihrer Sprachentwicklung dementsprechend früh und nachhaltig gefördert werden können, um die Voraussetzungen für das Lesen- und Schreibenlernen zu verbessern.[7]


Beeinträchtigung der sprachlichen Entwicklung

Bereits vor der Schule lernen Kinder viel über ihre Sprache und erweitern beim mündlichen Spracherwerb kontinuierlich ihre Kompetenzen. Sie verbessern ihre Artikulation, bauen sich einen Wortschatz auf und erlernen wichtige syntaktische und grammatische Regeln (Satzbau, Flexion und Konjugation, Zeitformen von starken und schwachen Verben usw.). Sie üben sich im nachvollziehbaren Erzählen von Erlebnissen und Geschichten, verbessern ihr Hörverstehen und entwickeln ab ca. 4–5 Jahren eine Phonologische Bewusstheit.

Sicher wundert es euch nicht, dass die vorschulische Sprachentwicklung eines Kindes einen großen Einfluss auf das spätere Lesen- und Schreibenlernen ausübt. Sie gilt als eine der stärksten Prädiktoren für spätere Beeinträchtigungen in beiden Bereichen.[8]

Sprachentwicklungsstörungen wie z.B. kindliche Aphasie können eine Folge von Hirnschädigungen sein[9]. Liegt keine feststellbare Hirnschädigung vor, sprechen Experten von einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung. Dazu gehören zunächst einmal Störungen des Lauterwerbs, des Wortschatzes und der Grammatik. Auf kommunikativer Ebene können pragmatische Störungen auftreten. Dabei können jeweils sowohl die rezeptiven (Zuhören, Hörverarbeitung) als auch die produktiven Fähigkeiten (Sprechen, Erzählen, Kommunizieren) betroffen sein.

In meinem letzten Artikel habe ich darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, von Anfang an auch die vorschulische Entwicklung der Kinder ins Visier zu nehmen, um frühzeitig geeignete Hilfen und Maßnahmen initiieren zu können.


Auditive und visuelle Wahrnehmungsstörungen

Probleme bei der auditiven oder visuellen Verarbeitung oder bei der Wahrnehmung treten überproportional häufig im Zusammenhang mit Lese- Rechtschreibschwierigkeiten auf.

Die visuelle Wahrnehmung meint nicht nur die Sehstärke des Auges, sondern ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Leistungen wie der Wahrnehmung der Formkonstanz oder der räumlichen Beziehungen und die Figur-Grund-Unterscheidung. Diese Teilkompetenzen entfalten sich vor und während der Schulzeit. Lesen- und Schreibenlernen erfordert visuelle Aufmerksamkeit, visuelle Merkfähigkeit und visuelle Diskriminationsfähigkeit. Es liegt nahe, dass Schwierigkeiten in diesen Bereichen sich negativ auf die Lese- Rechtschreibentwicklung von Kindern auswirken.

Auch die Funktionen der auditiven Wahrnehmung sind sehr komplex. Zu den wichtigsten zählen die Lautstärkeempfindung, die Lautstärkeunterscheidung, die Tonhöhenunterscheidung, die zeitliche Verarbeitung, das Richtungshören, die Lautunterscheidung und die Störschall-Nutzschall-Separation (wichtige Hörwahrnehmungen filtern).

Auditive Wahrnehmungsstörungen treten nicht selten zusammen mit einer Sprachentwicklungsstörung auf. Beide Störungen korrelieren wiederum stark mit der Legasthenie.[10]

Welche Teilkomponenten der auditiven oder auch der visuellen Wahrnehmung sich auf eine künftige Legasthenie auswirken (und wie das geschieht), wird in der Wissenschaft bis heute kontrovers diskutiert. Unklar ist sogar, ob auditive oder visuelle Beeinträchtigungen im Einzelfall Ursache oder Folge der legasthenen Störung sind. [11] Darum raten Experten von Programmen ab, die mit einem ausschließlichen Training von visuellen oder auditiven Wahrnehmungskompetenzen die Lese- Rechtschreibleistungen verbessern wollen.


Sozio-ökonomische Faktoren

Kinder, die aus anregungsarmen bzw. bildungsfernen Elternhäusern stammen, können auf einen weniger reichen Erfahrungs-, Wissens- und Sprachschatz zurückgreifen als Kinder aus bildungsnahen bzw. anregungsreichen Elternhäusern. Dies hat weitreichendere Folgen, als ihr vielleicht vermuten würdet. PISA und IGLU-Studien weisen kontinuierlich und übereinstimmend auf „signifikante Beziehungen zwischen der sozialen Herkunft und den schriftsprachlichen Leistungen der Kinder bzw. Jugendlichen“[12] hin. Zu den Hauptindikatoren zählen die Berufsklasse und der erreichte Bildungsabschluss der Eltern, das Einkommen, die Anzahl der Bücher und der eigenen Kinderbücher im Haushalt.

Lesen die Eltern viel und führen sie ihre Kinder früh und nachhaltig an das Lesen heran? Bieten sie bezüglich des Lesens eine anregungsreiche Umgebung? Sprechen sie mit ihren Kindern über Literatur und geben sie Instruktionen zum Lesen? Motivieren sie ihre Kinder situativ, aber auch langfristig zum Lesen? „Werden die Eltern von den Kindern als ‚Leser‘ und ‚Schreiber‘ wahrgenommen?“[13] . Diese Aspekte elterlichen Verhaltens wirken sich förderlich und stimulierend auf das Lesen- und Schreibenlernen über die gesamte Kindheit und Jugendzeit aus.[14] Aus der IGLU-Studie 2006 geht hervor, dass nur 5,1% der Eltern guter Leser, aber 20,6% der Eltern schwacher Leser weniger als eine Stunde pro Tag lasen.

Familiäre Sozialisationsfaktoren können bei Legasthenikern genauso eine Rolle spielen wie biologische Faktoren und wirken sich auf die Lese- und Schreiblernentwicklung entweder positiv als „Schutzfaktor“ oder negativ als weiterer „Risikofaktor“ aus.[15] Daher ist es wichtig, dass ihr alle möglichen Einflussfaktoren in den Blick nehmt, wenn ihr die Frage richtig beantworten wollt, wie ihr den jeweiligen lese- und/oder rechtschreibschwachen Schüler oder Schülerin am besten und effektivsten helfen könnt.

Den Einfluss biologischer Faktoren könnt ihr bis zu einem gewissen Grad relativieren, etwa durch das kontinuierliche Trainieren des Wortschatzes, durch die Vermittlung geeigneter Lese- und Rechtschreibstrategien, durch Hilfsangebote, die der Nachteilsausgleich zulässt (größere Schrift, Vorlesen, Notenschutz etc.), und durch eine frühzeitige Zusammenarbeit mit außerschulischen Kooperationspartnern wie Logopäden, Ergo- und Lerntherapeuten.

Familiäre und soziale Faktoren erfordern zum Teil andere Maßnahmen und Strategien wie etwa Elterngespräche, die aufklären und Hilfen anbieten, oder das frühzeitige Heranführen an Literatur, das Schaffen zahlreicher Leseanlässe mit Anschlusskommunikation und eine nachhaltige Lesemotivation in der Schule als Kompensationsangebote. Damit könnt ihr ungerechte Startbedingungen eurer Schüler zu einem guten Teil ausgleichen.


Beeinträchtigungen weiterer Vorläuferfertigkeiten und flankierender Fähigkeiten

Neben der Sprachentwicklung oder der visuellen und auditiven Wahrnehmungsfähigkeit gibt es weitere Entwicklungsbereiche, die für das Gelingen des Schriftspracherwerbs von großer Bedeutung sind. Dazu gehören:

  • ein ausreichendes Konzentrationsvermögen,
  • ein gut funktionierendes Kurz- und Langzeitgedächtnis,
  • eine ausreichende Intelligenz,
  • eine relativ gesunde psychische Konstitution,
  • eine angemessen ausgebildete Motorik und Feinmotorik,
  • ein hinreichend entfaltetes Phonologisches Bewusstsein.

Wie sich die einzelnen Bereiche entwickeln, welche Schwierigkeiten hier auftreten können und wie sich das auf das Lesen- und Schreibenlernen auswirken kann, erfahrt ihr im nächsten Artikel.

Ich hoffe, dieser kleine Einblick in die Ursachen für eine Legasthenie hat deutlich machen können, dass die Parole: „üben, üben, üben!“ euren lese- und rechtschreibschwachen Schülern leider gar nicht weiterhilft, weil sie durch reines Wiederholen keine Fortschritte erzielen können. Wie ihr euren legasthenen Schülern und Schülerinnen wirklich effektiv helfen könnt, darüber werdet ihr denmächst einige Artikel mit praxisnahen Ratschlägen in diesem Blog lesen.

Herzlichst

Anja Ley



[1] Vgl. Schulte-Körne (2014), S. 145f.

[2] Vgl. z.B. Hinshelwood (1900), Orton (1937)

[3] Vgl. z.B. Light & DeFries(1995)

[4] Vgl. Schulte-Körne (2014), S. 115

[5] Vgl. ebd. S. 117 und Klicpera et al. (2017), S. 180

[6] Vgl. Klicpera et al. (2017), S. 180 f.

[7] Vgl. Schulte-Körne (2014), S. 119

[8] Vgl. Scarborrough (1998), S. 75-117, Shapiro et al. (1990), Snow et al. (1998)

[9] Sprachstörung aufgrund einer Hirnschädigung der linken Gehirnhälfte. Auf diese Störungen gehe ich aus Platzgründen hier nicht weiter ein.

[10] Vgl. Deutscher Bundesverband für Logopädie e. V. (2017)

[11] Vgl. z.B. Schydlo (1994), Warnke (1997), Hess (2001), Schule-Körne (2014)

[12] Scheerer-Neumann (2017), S. 35

[13] ebd. S. 38

[14] Vgl. Scherer-Neumann (2015), S. 37

[15] ebd., S. 38

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