27. Januar 2019
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Der kleine Ritter Trenk, das Meerschweinchen King-Kong und die Kinder aus dem Möwenweg. Dies sind nur wenige Charaktere, die aus der Feder von Kirsten Boie stammen. Dr. Boie selbst war Lehrerin, bevor sie sich auf das Schreiben konzentrierte. Im Jahr 1985 erschien ihr erstes Buch „Paule ist ein Glücksgriff.“ Hierauf folgten rund 100 Bücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden.

Ausgezeichnet wurde Kirsten Boie unter anderem im Jahr 2007 für ihr Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises und 2008 mit dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Im Jahr 2011 erhielt sie das Verdienstkreuz 1. Klasse vom Bundespräsidenten.

Im Jahr 2018 startete Dr. Boie gemeinsam mit einigen prominenten Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern eine Petition an das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sie fordert: „Jedes Kind muss lesen lernen!“ Worum geht es ihr dabei? Und welche Rolle nehmen unsere Grundschulen dabei ein? Ich habe Kirsten Boie hierzu interviewt.

Kirsten Boie | @ Indra Ohlemutz

 

1. Sehr geehrte Frau Dr. Boie, gemeinsam mit einigen Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern starteten Sie die Petition:Jedes Kind muss lesen lernen!“ an das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Was genau fordern Sie und wie ist diese Petition entstanden?

Laut IGLU-Studie 2016 können in Deutschland 18,9% der Schülerinnen und Schüler am Ende der vierten Klasse nicht sinnentnehmend lesen. D.h., sie sind funktionale Analphabeten, die zwar die Buchstaben kennen, für das Zusammenziehen der Wörter aber noch so viel Zeit brauchen, dass der Arbeitsspeicher in ihrem Gehirn nicht ausreicht, um sich das erste Wort immer noch zu merken, wenn sie das letzte buchstabieren.

Wer zwar Buchstaben zusammenziehen kann, hinterher aber nicht weiß, was in einem Satz oder Text stand, der kann eben nicht lesen, hat keine Chance in der weiterführenden Schule, wird keinen Beruf erlernen, nicht in die Sozialsysteme einzahlen oder am politischen Meinungsbildungsprozess durch Entnahme komplexerer Informationen aus Zeitungen teilnehmen können. Die Petition fordert einfach, hier Abhilfe zu schaffen. Entstanden ist sie, weil ich im vergangenen Sommer schlichtweg zornig war, dass die Bedeutung dieses Themas – das ja alles andere als neu ist – offenbar in der Politik immer noch nicht angekommen war. Und wie die Liste der renommierten Erstunterzeichner zeigt, war ich mit meinem Zorn nicht allein.

 

2. Sie nehmen die Grundschulen in den Fokus Ihrer Petition. Wie sieht es mit Familien aus? Sind diese nicht zunächst verantwortlich für die Lesebiographie ihrer Kinder?

Natürlich, in der besten aller Welten würden sich alle Eltern ausreichend um die schulische Karriere ihrer Kinder kümmern. Das tun ja auch heute schon die Familien, in denen die Eltern einen bestimmten Bildungsgrad haben. Wie gebildet die Eltern sind, ist in Deutschland tatsächlich der entscheidende Faktor, wenn es darum geht, ob Kinder bei uns lesen lernen.

Viele Eltern können aber selbst nicht (gut) lesen, vielen ist nicht bewusst, wie wichtig es ist, dass ihr Kind vernünftig lesen kann, und viele sind schon vollkommen überfordert damit, ihr eigenes Leben zu organisieren. Sie schaffen es nicht, sich auch noch um die Schullaufbahn ihrer Kinder zu kümmern. – Sollen wir dann den Kindern, deren Eltern zu dieser (großen!) Gruppe gehören, einfach sagen: Pech gehabt? Genau das ist doch die Aufgabe der Gesellschaft in Gestalt der Schule eben diese Kinder aufzufangen. Diejenigen, deren Eltern sich kümmern, mit ihnen lernen oder ihnen Nachhilfe finanzieren können, haben die Schule längst nicht so nötig wie diese Gruppe.

 

3. Welche Sichtweise muss in unserer Gesellschaft weiter ausgeprägt werden, wenn es um das Lesenlernen und Lesen unserer Kinder geht?

Wir müssen begreifen, dass Lesenkönnen das entscheidende Nadelöhr zu jeglicher Teilhabe an der Gesellschaft ist. Wer nicht durch dieses Nadelöhr schlüpft, hat schon ganz am Anfang seiner Bildungskarriere verloren. Er wird in der Schule auch kein anderes Fach bewältigen können, geschweige denn die Berufsschule meistern. Darum ist die Betonung des (natürlich wichtigen!) Themas Digitalisierung zu Lasten des sehr viel grundlegenderen, aber altmodisch wirkenden Themas Lesen einfach nur fahrlässig.

 

4. Welche Maßnahmen halten Sie für besonders wirksam, wenn es darum geht, das (vor-) schulische Lesenlernen und Lesen von Kindern zu fördern?

Möglichst frühes Vorlesen natürlich. Auch (ich sage das ungern, weil es so technologiefeindlich wirkt), Kinder nicht zu früh und zu viel mit den spannenden audiovisuellen und digitalen Medien zu beschäftigen: Der Zugang ist hier SEHR viel einfacher als beim (zu Anfang ja hoch anstrengenden) Lesen. Lesen macht erst relativ spät Spaß, nämlich dann, wenn ich eine bestimmte Lesegeschwindigkeit erreiche. Da bleiben die Kinder nachvollziehbarerweise dann lieber bei Games oder Apps. – Was die Schule betrifft, wissen wir inzwischen sehr genau aus empirischen Untersuchungen, dass der Schlüssel zur Steigerung der Leseflüssigkeit im täglichen Üben im (auch Fach-)Unterricht liegt. Da kommen wir dann zu Methoden wie dem (wieder altmodisch wirkenden) chorischen Lesen der ganzen Klasse (nicht reihum vorlesen! das ist kontraproduktiv!), Tandem-Lesen oder Lesen bei parallelem Anhören von Hörbüchern. Die Erfolge sind nach einigen Wochen z.T. verblüffend.

 

5. Wie können Leseförderungen effektiv – etwa auch mit Blick auf die Ganztagsbetreuung in Kitas und Grundschulen – umgesetzt und etabliert werden?

Hier haben wir Orte, in denen ganz wunderbar mit Büchern gearbeitet werden könnte! Kinder lieben es ja, (auch in der Gruppe) vorgelesen zu bekommen. Und es könnten überall Bücherecken eingerichtet werden, wo die Kinder sich selbst mir Büchern beschäftigen können. So könnten wir auch die Kinder erreichen, die zu Hause keinen Kontakt mit Büchern haben.

 

6. Ihre Forderungen benennen konkrete Maßnahmen gerade auch hinsichtlich der Ausbildung von Lehrkräften an Grundschulen. Was aber können Schulen und Lehrkräfte in Zusammenarbeit mit vorschulischen Einrichtungen, Eltern und außerschulischen Kooperationspartnern bereits jetzt unternehmen, um niedrigschwellig auf die Ergebnisse der IGLU-Studie zu reagieren?

Wenn ein Bewusstsein dafür entsteht, wie wichtig zunächst die technische Lesefähigkeit, dann aber auch das Lesen von Büchern für das weitere Leben der Kinder und für die Gesellschaft ist, wäre schon viel gewonnen.

Lehrer könnten sofort die Zeit, die aufs Lesenüben verwendet wird, erhöhen – laut IGLU-Studie wird an deutschen Schulen nur etwa die Hälfte der Zeit aufs Lesen verwandt wie im Durchschnitt der OECD-Länder! Eltern, Hort- und Kita-Einrichtungen könnten so viel wie möglich dafür tun, dass Kinder Spaß an Büchern und am Lesen finden. Für heutige Kinder ist das viel schwieriger als für frühere Generationen, für die das Lesen der einzige Ausstieg aus dem Alltag war und höchstens mit Fernsehen und Videokassetten konkurriert hat.

Sehr geehrte Frau Dr. Boie, ich bedanke mich sehr für das Interview.

Alexandra von Plüskow-Kaminski

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