6. Dezember 2017
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Heute möchte ich exemplarisch von meiner Klasse (Anfang 3. Schuljahr) berichten, wie sich eine Märchen-Doppelstunde mit den Mitteln des szenischen Rollenspiels ereignet hat.
Mit ein paar einleitenden Worten habe ich die Klasse darauf vorbereitet, dass wir in den nächsten Wochen im Deutschunterricht so eine Art Theater spielen werden. Das wurde mit großer Freude aufgenommen. Zur Aufwärmung wählte ich eine Fantasiereise. Die Kinder sind geübt darin, sich entspannt und bequem auf den (Teppich-)Boden zu legen ohne sich gegenseitig zu berühren oder zu stören.


Eine Fantasiereise

„Während ich ganz entspannt atme, merke ich, wie der Boden unter meinem Körper zu einem Zauberteppich wird, der sich langsam hebt und mit mir aus dem Klassenzimmer schwebt…
Du fliegst über eine bekannte Landschaft aus Dörfern, Hügeln und Bergen, näherst dich dem Meer, das du überquerst und erreichst nun ein fremdes Land. Während du alles staunend betrachtest, die seltsamen Pflanzen und unbekannte Tiere und Menschen, senkt sich dein Teppich und du landest vor einem bunten Haus. Es ist eckig und rund zugleich mit spitzen Türmchen und zierlichen Balkonen.

An der ersten Tür, die du erreichst, steht auf einem Schild mit Sternen, Glitzersteinen und Kreiseln das Wort „Märchen“. Du gehst hinein und triffst eine Art Geisterbahn an… In dem schummrigen roten, grünen, blauen und gelben Licht treten allerlei Märchengestalten hervor. Sie tanzen und winken dir zu. Eine Figur gefällt dir besonders. Du winkst zurück – dann verschwinden alle wieder…

Du verlässt den Märchenraum und gehst zur nächsten Tür. Darauf steht „Gedichte“. Auch in dieses Zimmer trittst du ein. Du hörst Musik und eine ferne Trommel, und du siehst Wörter, die schweben, schwingen, sich wiegen, sich anfassen, sich zu Zeilen formen…Manche Worte gefallen dir besonders, und eines davon nimmst du sogar in deiner Hand mit.

Nun verschwinden alle Wörter wieder und erreichst die nächste Tür. Auf das Schild sind lauter Blitze und Fragezeichen gemalt. Beim Eintreten dröhnen dir schrille quäkende Töne entgegen und ein paar wilde grüne Kerle ziehen sich an den Haaren und Beinen, reißen an den Kleidern, schreien, spucken und schimpfen. Du verlässt schnell diesen unfreundlichen Ort und knallst die Tür zu…


Zurück in der Halle gelangst du zur letzten Tür. Eigentlich ist es nur eine Öffnung in der Wand, vor der ein weißer Schleier weht, der durchsichtig wird, sobald du hindurch gehst. Der Raum ist dir fremd, aber angenehm aufregend. Du staunst über die seltsamen Gestalten, die fliegen und unsichtbar werden können…sie sprechen eine blecherne Sprache, aber du verstehst sie dennoch, sie packen dich und fliegen mit dir davon. Und wenn du ein wenig ängstlich fragst, wohin es geht, antworten sie dir geheimnisvoll: Du bist im Raum der Träume nach Mitternacht…

Dann verschwindet alles ganz plötzlich im Nebel, und du stehst wieder mitten in der Eingangshalle. Draußen winkt dein Zauberteppich. Du erinnerst dich an die Märchenfigur, die dir zugewinkt hat, an dein Wort, das du fest in der Hand hältst, an die quäkenden Töne und die Nebelschleier.
Rasch setzt du sich auf deinen Teppich und fliegst vom fernen Land über das Meer zurück zum bekannten Land, bis du hier im Klassenzimmer wieder sanft auf dem Boden landest. Nimm dir Zeit, die Augen wieder zu öffnen… Räkele dich ein bisschen…Ich zähle jetzt von 5 bis 1, dann sind alle wieder wach und hier!“

Ich wählte das Motiv des Zauberteppichs, weil er in den Märchen als Fortbewegungsmittel für die Seele gilt, mit dem sie sich in Bewegung setzt um neue Gegenden für sich zu erforschen. War das nur eine Fantasiereise? Nicht nur!
So ganz nebenbei erfahren die Kinder eine Form der Achtsamkeit. Sie entspannen sich, lenken ihre Aufmerksamkeit und Bewusstheit den inneren Bildern zu, die individuell bei jedem ein wenig anders entstehen. Und sie lassen diese ohne Wertung geschehen.


Die Geschichte gemeinsam Revue passieren lassen

Die Kinder berichteten im Feedback von ihren Erlebnissen während der Fantasiereise. Sie kamen auf die Idee, dass jede Tür ein Unterrichtsthema in den szenischen Spielstunden sein könnte: Märchen, Gedicht, Traum-Fantasie-Geschichte. Nur die „Höllentür“, wie sie jene mit den wilden Kerlen nannten, konnten sie nicht erklären. Ich verriet ihnen, dass es dabei um einen Konflikt-Streit-Text gehen würde.

Da ich in dieser Stunde mit einem Märchen beginnen wollte, ließ ich die Kinder im Stuhlkreis ihre Lieblingsmärchen aufzählen, schrieb sie auf Papierstreifen und legte sie auf dem Boden aus. Jedes Kind sollte sich nun zu dem Märchen stellen, für das es sich am meisten interessierte und seine Begründung (durch meine Interview-Fragen) mitteilen: …weil ich den Hahn witzig finde (Bremer Stadtmusikanten), …weil mir die Ente so leid tut (Peter und der Wolf)…weil Hänsel und Gretel die Hexe ausgetrickst haben…


Erstes Rollenerproben mit bekannten Märchenfiguren

Im Stegreif nähern sich die Kinder dem Thema Märchen an und bringen dabei Bekanntes bzw. ihr Vorwissen ein.

Danach wählten die Kinder eine Figur – Person oder Tier – aus ihrem Lieblingsmärchen aus und bedienten sich mit viel Spaß aus meiner Requisitenkiste (jede Menge Tücher aus Wolle, Seide, Tüll in allen Farben, Pappkrone, Ketten, Hüte, Brille, Zauberstab…). Sie betraten nach ihrer „Verkleidung“ die Bühne und sollten sich nun in ihrer Rolle bewegen und sich vorstellen. Ich mischte mich mit meinen Interview-Fragen unter sie:

L: Wer bist du, eine Frau oder ein Tier?
Lisa: Ein Mädchen.
L: Du hast so einen kostbaren Rock an. Bist du eine Prinzessin?
Lisa: Nein.
L: Was tust du denn?
Lisa: Ich sitze hier im Turm und warte.
L: Wie geht es dir in dem Turm?
Lisa: Gut, aber ich bin sehr alleine.
L: Besucht dich denn niemand? Kannst du nicht raus…. usw.

Bald tummelten sich die Kinder mehr oder weniger aktiv und erzählten sich aus ihrem Leben, von ihren Fähigkeiten und Problemen. Dabei benutzten sie ähnliche Interview-Fragen, wie sie es vorher gesehen hatten. Es fanden sich Figuren aus dem gleichen Märchen zusammen, es gab auch Interaktionen mit Figuren aus verschiedenen Märchen.

Im anschließenden Feedback beschrieben die Kinder ihr Erleben mit den positiven Eigenschaften, mit denen sie sich identifiziert hatten: „Mir hat es gefallen, dass ich so schlau und mutig war…dass ich den Wolf ausgetrickst habe…dass ich etwas Gutes tun konnte als Hase…


Das Szenische Spiel mit einem bekannten Märchen

Die Kinder legten ihre „Verkleidung“ und ihre Rolle ab, denn im nächsten Prozess sollte aus drei Märchen ein Märchen für die Stunde ausgesucht werden – durch demokratische Mehrheitsentscheidung!
Zu meiner Überraschung entschieden sich die meisten Kinder für den „Teufel mit den drei goldenen Haaren“, vielleicht, weil den meisten das Märchen unbekannt sie aber neugierig waren. Aber fast genau so viele wollten lieber die „Bremer Stadtmusikanten“ spielen.

Bei der Bremer Gruppe gab es kurzzeitig großen Frust, weil sie sich der Mehrheit beugen sollten. Erst nach dem Versprechen, in einer anderen Deutschstunde dieses Märchen zu spielen, waren sie bereit mitzumachen.

„Ich werde euch jetzt das Märchen erzählen. Und während ich erzähle, geht ihr ohne zu fragen auf die Bühne und spielt eine Rolle, die euch gerade im Moment gefällt und die zum Text passt. Es kann ein Mensch, Tier, Baum oder Symbol sein. Spielt aber ohne zu sprechen mit.

Wenn eure Rolle im Text verschwindet, geht wieder von der Bühne und wählt in der nächsten Szene eine andere aus. Ihr könnt aber auch nur Zuschauer und Zuhörer sein…“


Während des Erzählens spielten die Kinder spontan und mit wachsender Begeisterung. Manche blieben Zuschauer, manche fanden sich zu Gruppen zusammen (den Fluss, die Mühle, den Wald…). Die Hauptrollen wurden sogar von wechselnden Kindern gespielt – ohne Absprache, ohne Streit. Nur Vlassios übernahm mit souveräner Selbstverständlichkeit die Rolle des Glückskindes, die er bis zum Schluss des Märchens nicht mehr ablegte.

Das Spiel verlief – auch für mich – ungemein spannend, vielleicht auch deshalb, weil es die meisten nicht so genau kannten. Zwar weiß man ja, dass Märchen normalerweise gut ausgehen, aber ganz sicher ist das eben doch nicht.
Vlassios war in seiner Rolle sehr authentisch, er war das Glückskind.

Felix genoss die Rolle des bösen Königs ausgiebig (im Schutz der Rolle mit Freude böse sein zu dürfen passiert nicht alle Tage!). Katrin wirkte sehr liebevoll als Teufels- Großmutter, eher wie eine menschliche Großmutter.
Bei diesem Stegreifspiel, auch „Jeux Dramatiques“ genannt, wird von den Kindern viel Spontaneität gefordert. Sie müssen sich rasch für irgendeine Rolle entscheiden und auf die Bühne gehen. Auch Kreativität wird geschult, in dem ich mir etwas einfallen lassen muss, wie ich die gewählte Rolle ausspiele.
Die Lust am Spielen, die Bewegung (innerlich und äußerlich) und die Spannung durch das Märchen wurden hier für die Schüler intensiv erlebbar. Sie sind die Figuren und Elemente der Geschichte, und so wurde die Geschichte zu ihrer eigenen Geschichte, mit der sie sich identifizierten.


Feedback im Stuhlkreis:

L: Wie habt ihr euch in den Rollen gefühlt?

Bei dieser Frage, stelle ich ein paar leere Stühle auf die Bühne und schreibe für jeden Stuhl Rollenzettel: Das Glückskind – der König – der Fährmann – die Großmutter usw.
Wer etwas zu seiner Rolle sagen möchte, setzt sich auf den leeren Stuhl.
„Ich, Fährmann, bin froh, dass ich nicht mehr fahren muss!“
Ein anderes Kind als Fährmann sagt: „Ich Fährmann finde das Leben schön. Mir macht es Spaß, mit der Fähre zu fahren. Mit der Zeit wird es etwas langweilig. Ich würde vielleicht auch mal was anderes probieren!“
Ich, König, finde richtig, was mir passiert ist. Ich habe dem Glückskind eine Grube gegraben und bin selber reingefallen…Ich König bin sehr gierig, das gebe ich zu. Es geschieht mir recht, dass ich Fährmann sein muss…

L: Willst du etwas ändern, damit du wieder König sein kannst?
Vielleicht kann ich es ändern, wenn ich zugebe, dass ich etwas falsch gemacht habe…

L: Du bist zuversichtlich, dass du nicht immer Fährmann sein musst?
Ganz sicher…
Ich, Großmutter, habe den Jungen gerne aufgenommen..,
L: Was gefällt dir an ihm?
Er ist freundlich und nett.
L: Meinst du, er hat nur Glück gehabt, oder hat er auch selbst etwas dazu getan?
Er hat ein sehr gutes Herz und ist sehr mutig. Ich fand es eine gute Idee von mir, dass ich ihn verzaubert habe. Es macht auch mal Spaß zu lügen. Der Junge hat anderen Menschen geholfen, also wollte ich ihm auch helfen…


Ich Großmutter komme mit dem Teufel nicht so gut zurecht. Ich würde lieber mehr mit Menschen zusammen sein. Ich weiß, wie das mit dem Teufel ist…

Ich Glückskind hatte vor, mir nicht Angst machen zu lassen. Ich hab gedacht, ich komme da durch!..
Ein anderer Junge, der auch kurz das Glückskind spielte, stellte sich hinter den Stuhl und „doppelte“ die Rolle von Vlavios, d.h., er gab dem Glückskind aus seiner Sicht eine Stimme: Mir hat es auch Spaß gemacht, dass ich mit der Oma den Teufel so verarscht habe!…

Als Ameise war es auch ganz toll… Fast hätte es der Teufel gemerkt, wenn die Oma nicht so gut gewesen wäre… Ich bin jemand, der Vertrauen hat. Ich wollte den anderen helfen. Ich hatte auch Vertrauen zur Großmutter, dass ich wieder ein Mensch geworden bin…

In den Äußerungen der Kinder wird deutlich: sie spüren Freude über die Erfolge des Glückskindes, sie haben Spaß an der Überlistung des Teufels, Spaß an den Lösungen der Rätsel, sie fühlen das Vertrauen des Glückskindes in sich und in die Mitmenschen – und das ist schließlich der „Schlüssel zum Glück“.

Zum Abschluss kommen alle auf der Bühne zusammen um die Hochzeit des Glückskindes zu feiern; sie lachen, toben, tanzen, singen, freuen sich. Wir hatten nicht über das Märchen gesprochen, wir hatten es alle durchlebt als wären wir dabei gewesen.


Die richtigen Interview-Fragen

Mit einem anderen Text können Sie genau so intensiv szenisch arbeiten. Wie Sie bestimmt festgestellt haben, hilft den Kindern das Interview, damit sie leichter in die Rolle hineinkommen, sich schneller identifizieren können. Interview-Fragen als Vorschlag um die richtige Haltung, das Erscheinungsbild zu unterstützen, Gefühle, Gedanken, Ideen zu erfragen…

  • „Wer bist du gerade?“ – wichtig um sich selber in der Rolle zu benennen…
  • „Zeig uns, wo du gerade bist, liegst, sitzt, gehst… (Haltung)
  • „Wie fühlst du dich im Augenblick…“ (Gefühl darstellen)
  • „Was denkst du gerade, was geht dir eben jetzt durch den Kopf?“ (Gedanken assoziieren)
  • „Was würdest du dir jetzt wünschen…?“
  • „Was könnte dir jetzt helfen…?“
  • „Was hast du erwartet…?“
  • „Könntest du auch anders reagieren…?“
  • „Wie könnte es jetzt weitergehen…?“
  • „Glaubst du XY hat sich verändert…?“
  • „Was hat dir gut getan…?“ usw.

Durch die Rollenerfahrung wird ein Text tiefer erschlossen, weil er erlebt wird und nicht nur darüber gesprochen wird.


„Urlaub auf Balkonien“ aus dem Zebra-Lesebuch 3

Lesen Sie z.B. die Geschichte „Urlaub auf Balkonien“ im Zebra-Lesebuch 3 vor und stellen Sie hinterher 4 Stühle auf mit der Aufschrift „Lilian“, „Papa“, „Frau Kuckuck“ und „Maxi“ und lassen Sie die Stühle spontan von den Kindern besetzen. (Wenn mehrere Kinder auf dem Stuhl „Lilian“ sitzen wollen, können sie sich hinter den Stuhl stellen und als Lilian2 und Lilian3 die gleiche Rolle belegen).
Beginnen Sie nun bei „Lilian“ mit dem Interview:

„Lilian, du sitzt jetzt hier zu Hause bei dir auf dem Balkon, zeig uns mal, wie das aussieht…
Erzähl uns doch wie du dich gerade fühlst hier zu Hause in den Sommerferien…
Warum bist du so sauer?
Wo wärst du jetzt viel lieber?“
Evtl. 2. Stuhl vom „Papa“ hinstellen und Kinder zur Rolle
einladen:
„Sie sind Herr X, der Papa von Lilian?
Wie geht es Ihnen, wenn Sie Ihre Tochter so sehen?
„Warum konnten Sie nicht in Urlaub fahren?…“
„Lilian zeig uns, was dort in Spanien so schön war, spiel es uns vor…
Erzähl uns nun, was auf dem Balkon plötzlich geschah…“
Evtl. 3. Stuhl Frau Kuckuck hinstellen:
„Frau Kuckuck, wo wohnen Sie?

Sie hatten ja eine richtig pfiffige Idee…Wie kamen sie darauf?
„Lilian, was hast du gedacht, als der Eimer auftauchte?
Und dann hattest du eine gute Idee…?
Wie ging es dir, als du Maxi auf dem anderen Balkon gesehen hast…?“
Evtl. 4. Stuhl mit Maxi hinstellen:
„Maxi, was machst du gerade auf dem Balkon deiner Oma…
Erzähl uns, wer dann plötzlich kam…?
Wie hast du dich gefühlt…“
„Lilian, was möchtest du jetzt über deine Sommerferien sagen…?“
„Wie geht es Ihnen jetzt, Herr XY?“


„Wenn ihr jetzt von der Bühne geht, streift eure Rollen ab und seid wieder ganz normal Sara, Konrad…
Wer von euch (an alle Kinder gerichtet) hat etwas Ähnliches erlebt und möchte davon erzählen (mitteilen ohne die Spieler zu kritisieren oder über die Spieler zu sprechen, es geht hier um andere persönliche Erfahrungen der Kinder).“

Es kommt vor, dass ein Kind zum Schluss zusammenfasst, was alle bewegt hat: Manchmal denkt man, das Schicksal meint es blöd mit einem, und dann wird überraschenderweise alles ausgesprochen gut!

Viel Spaß beim Szenischen Spiel mit Texten – beim nächsten Mal geht es auch um Gedichte.
Bettina Rinderle

 

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