25. November 2017
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  •  Welche Besonderheiten/Schwierigkeiten ergeben sich für die Kinder bei Schuleintritt?
  • Wie erkenne ich als Lehrer – trotz Vermeidungsstrategien – die besondere Ausgangslage?
  • Wie kann und sollte ich dem begegnen?
  • Wie kann man Analphabetisierung vorbeugen?
  • Wie kommen spätere Analphabeten durch die Grundschule?
  • Welche Techniken haben sie, damit sie nicht auffallen?
  • Wie kann man sie dennoch erkennen und ihnen helfen? Gibt es konkrete Testverfahren?

Der Weltalphabetisierungstag am 8. September rückte uns die Thematik der mangelnden oder fehlenden Alphabetisierung bei Kindern und Erwachsenen ins Blickfeld. Zu dem Thema baten wir Frau Juniorprofessorin Barbara Geist um einen kurzen wissenschaftlichen Überblick – allein die Zahl, dass in Deutschland 7,5 Mio. Menschen leben, die als sog. funktionale Analphabeten gelten, d.h. einzelne Wörter und Sätze lesen und schreiben können, aber keine Texte, ist alarmierend!

Zur Bedeutung von Schrift schreibt Frau Jun. Prof. Barbara Geist, ausgewiesene Fachfrau für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache vom Herder-Institut Leipzig:

Schrift – als kulturelle Errungenschaft – bietet u.a. die Möglichkeit, Gedanken, Ideen, Mitteilungen dauerhaft für einen selbst und/oder für andere festzuhalten. Die Auseinandersetzung mit Schrift(lichtkeit) prägt unsere gesellschaftliche Teilhabe und trägt zur Realisierung individueller Verwirklichungschancen bei – wie z.B. die Geschichte vom „Löwen der nicht schreiben konnte“ (Baltscheit 2012) eindrücklich zeigt. Die Verwendung von Schrift (sogenannte literale Praktiken) ist individuell sehr verschieden: Sie reicht vom Einkaufszettel als Gedankenstütze; über Tagebuchaufzeichnungen, um Erlebtes festzuhalten und zu verarbeiten; Kurznachrichten, Grußkarte, Emails und Briefe als Kommunikationsmedien; bis hin zur Rezeption von Zeitungen, Newsletter und Bücher. Auch in der Schriftsprachkompetenz unterscheiden sich Menschen stark voneinander. Eine klare Grenzlinie des „(Nicht-)Alphabetisiert-Seins“ gibt es nicht, weshalb der Begriff der Literalität mit all seinen Gradierungen geeignet ist und verschiedenste literale Praktiken einschließt (vgl. Nickel 2015: 10).

7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland sind funktionale Analphabeten. Sie können zwar einzelne Wörter und Sätze lesen und schreiben, haben jedoch erhebliche Schwierigkeiten, einen Text zu verfassen und zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit Schrift ist mühsam. Von der Gesellschaft ausgeschlossen sind diese Menschen deshalb jedoch nicht zwingend. 80% haben einen Schulabschluss; 57% sind erwerbstätig. Sie erleben die Verwendung von Schrift allerdings nicht als Entlastung, sondern die Auseinandersetzung mit Schrift wird als belastend empfunden. Das Nicht-Erleben von Genuss im Zusammenhang mit Schrift prägt den Alltag der Familien.
„Funktionaler Analphabetismus wird sozial vererbt“, so Riekmann (2012: 1). Kindertagesstätten und Schulen können auch für Kinder von funktionalen Analphabeten literale Orte sein, an denen die Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit in all ihren Funktionen von den Kindern erlebt wird. Das Vorlesen als eine literale Praktik des Genusses von Schrift und des Eintauchens in Schriftlichkeit ist nicht nur in Kitas und Grundschule, sondern noch darüber hinaus wichtig; Autorenlesungen sind ja auch für Erwachsene noch ein besonderes Ereignis. Eine Klassenpost lässt Kinder und Jugendliche Schrift als Kommunikationsmittel erfahren. Auch Kinder und Jugendliche mit schweren (sprachlichen oder kognitiven) Beeinträchtigungen können im Entdecken der Funktionen von Schrift unterstützt werden, in dem für sie und mit ihnen geschrieben wird (z.B. im Diktierenden Schreiben, Merklinger 2011). Unterstützende Methoden wie das Vorlesen und das diktierende Schreiben ermöglichen es gerade Kindern aus sogenannten schriftfernen Familien die Funktionen von Schrift zu erleben und über deren Nutzen für sich selbst und die Klassengemeinschaft in den Schriftspracherwerb zu starten.

Buchtipps
Löffler, C., & Korfkamp, J. (2016). Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Münster: Waxmann.
Merklinger, D. (2011). Frühe Zugänge zu Schriftlichkeit. Eine explorative Studie zum Diktieren. Freiburg im Breisgau: Fillibach.

Die Hervorhebungen in Frau Geists Artikel stammen von mir, ich möchte im Folgenden kurz darauf eingehen:


Verwendung von Schrift

Alle von Frau Geist genannten Textumgangsformen wie Tagebuch, Briefe, E-Mails, Kurznachrichten, Grußkarten, aber auch Rezepte, Steckbriefen, eine Klassenpost und natürlich auch Geschichten sind Gegenstand aller Lehrpläne in der Grundschule und damit auch in intensiver Form in all unseren Lehrwerken enthalten. Wir führen die Kinder kleinschrittig an diese Textumgangsformen heran – allein: dass sie lesen und schreiben können, ist auch hierfür die Voraussetzung.


Vorlesen als literale Praktik

Auch das Vorlesen ist eine wichtige Kompetenz beim Erwerb der Schriftlichkeit und wird durch (neue) Lesemethoden wie dem Tandemlesen, bei dem sich immer 2 Kinder einen Text vorlesen, gemeinsam über ihn sprechen und zusammen das Textverständnis klären, befördert.
Das Niko Lesebuch 2 führt diese Methode wie folgt ein:

Übrigens: Das Niko Lesebuch 2 enthält auch eine Audio-CD, die das Vorlesen auf verschiedene Weise befördert:

  • die Lehrkraft kann den Hörtext mit der gesamten Klasse anhören
  • die Kinder können sich Texte mehrmals im Unterricht anhören, entweder in Kleingruppen oder für sich mit Kopfhörern
  • die Kinder können die Texte auch zuhause hören, wenn die Lehrkraft die CD mit nach Hause gibt
  • im Anschluss an das reine Hören können verschiedene Höraufgaben zu den Texten bearbeitet werden

Die Geschichte vom Löwen der nicht schreiben konnte

Eines meiner schönsten Erlebnisse der letzten Wochen war eine Hospitation an einer Stuttgarter Grundschule in einer ersten Klasse zum Ende des Schuljahres (das ist wichtig zu wissen, denn die meisten Kinder hatten den Buchstabenerwerb schon weitgehend vollzogen). Die Lehrkraft hatte das Buch „Die Geschichte vom Löwen der nicht schreiben konnte“ von Martin Baltscheit den Kindern mitgebracht und ihnen zunächst einen Abschnitt daraus vorgelesen. Danach folgte eine Reflexionsphase, was es denn bedeute, wenn man nicht schreiben könne, bevor die Kinder dann selbst einen Brief an eine Tier“dame“ geschrieben haben, der der Löwe schreiben wollte.

Die Briefe der Kinder waren herzerweichend und lustig zugleich. Natürlich durfte jeder, der wollte, seinen Brief vorlesen und danach las die Lehrkraft das Buch im Sitzkreis zuende.

Lesen und Schreiben homogen vereint und das schon in einem ersten Schuljahr mit einem „echten“ Schreibprodukt als Ergebnis – das war eine schöne Doppelstunde.


Niko und der Löwe, der nicht schreiben konnte

Auch unseren Niko-Autorinnen ist dieses neue Kinderbuch (aus dem Jahr 2012) positiv aufgefallen und wir haben es deshalb in unser Niko Lesebuch 2 integriert. Dort findet sich die Geschichte vom Löwen gleich zu Beginn des Schuljahres auf den Seiten 14/15 im Schulkapitel.

Wie im Niko Lesebuch üblich, ist der Text auf 3 Leseniveaus abgebildet, d.h. rechts der Originaltext und links zwei leichtere Varianten, davon die allerleichteste im silbischen Druck und als Hörtext auf der Audio-CD vorhanden.

Die Aufgaben können zu allen 3 Textvarianten gestellt und mit dem Wissen aus diesen Texten heraus beantwortet werden. Diese Doppelseite kann im Lesetandem bearbeitet werden oder die Kinder nach Leseniveau differenziert an die passende Textvariante gesetzt werden – oder Sie machen es so wie die Lehrkraft, bei der ich hospitieren durfte.

Im Niko Lesebuch 2 befinden sich natürlich noch viel mehr schöne Leseanlässe, die meisten sind dreifach differenziert und durch die Hör-CD unterstützt. Blättern Sie doch mal digital im Buch!

Haben Sie Fragen zu Niko oder zur Alphabetisierung? Dann melden Sie sich gern bei mir.

Freundliche Grüße

Michael Schlienz

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