Um einen geschriebenen Text zu verstehen, müssen wir Wörter und Sätze möglichst ohne größere Anstrengung erfassen können. Nur so gelingt es uns, unsere Aufmerksamkeit auf den Inhalt des Gelesenen zu richten. Flüssiges – also genaues, automatisiertes, angemessen schnelles und sinngestaltendes – Lesen ist ein wichtiger Baustein der Lesekompetenz. Aus der täglichen Unterrichtspraxis und aus Studien (z.B. IGLU 2016) wissen wir, dass es vielen Kindern auch nach Abschluss des basalen Leseerwerbs häufig noch schwerfällt, einen Text selbstständig zu lesen und zu verstehen. Ihr Arbeitsgedächtnis ist durch das mühevolle Erfassen der Wörter und Sätze so stark beansprucht, dass der Inhalt nur bedingt erschlossen werden kann.

Für die Förderung des flüssigen Lesens ist die Leseforschung in den vergangenen Jahren auf sogenannte Lautleseverfahren aufmerksam geworden. Die Methode des Tandem-Lesens stellt eine spezielle Form dieser neueren Lautleseverfahren dar, die sich in mehreren Studien auch für den Grundschulbereich als wirksam erwiesen hat (vgl. z. B. Gold et al. 2013).

Ein lesestärkeres Kind (der „Lesetrainer“) und ein etwas schwächer lesendes Kind (der „Lesesportler“) bilden ein festes Team, das „Lesetandem“. Sie lesen einen Text synchron und wiederholt (halb-)laut vor. Der Lesetrainer fungiert dabei als Vorbild, an dem sich der Lesesportler hinsichtlich des Leseflusses orientiert.

Konkret läuft das Lesen im Tandem wie folgt ab: Auf ein verabredetes Zeichen hin beginnen die beiden, einen kurzen Text im Chor (halb-)laut zu lesen. Der Trainer führt dabei zur Orientierung den Finger in der Zeile mit. Bei einem Lesefehler wird das Lesen unterbrochen. Gelingt es dem Sportler selbst, den Fehler zu verbessern, lobt ihn der Trainer. Anderenfalls korrigiert der Trainer die Verlesung und beide beginnen wieder gemeinsam am Satzanfang. Liest der Sportler über einen längeren Zeitraum hinweg ohne Fehler und fühlt sich sicher, darf er dem Trainer ein Zeichen geben und allein weiterlesen. Der Lesetrainer führt den Finger weiterhin, liest von nun an aber nur noch still mit. Im Falle eines Lesefehlers gilt der beschriebene Korrekturablauf. Danach beginnen beide wieder gemeinsam am Satzanfang. Auf diese Weise liest das Tandem den Text viermal.

Als Team trainieren die Schülerinnen und Schüler so die vier Aspekte der Leseflüssigkeit im geschützten Raum: Durch das laute Lesen werden die Leseprozesse der Kinder hörbar gemacht, sodass beim Lesen sofort Ungenauigkeiten erkannt und verbessert werden können. Die wiederholte Lektüre des Textes unterstützt die Aufnahme einzelner Wörter in den Sichtwortschatz und erleichtert deren automatisches Wiedererkennen in künftigen Situationen. So nähern sich die Kinder allmählich einem angemessenen Lesetempo an. Darüber hinaus gewinnt der Sportler durch die Orientierung an seinem Trainer einen Einblick in eine passende Betonung.

Ganz entscheidend für den Erfolg der Methode ist die Wahl eines geeigneten Lesetextes. Im Zuge des zunehmenden Interesses an der Methode wurden von einzelnen Schulbuchverlagen und in deutschdidaktischer Fachliteratur bereits erste Textsammlungen für die Umsetzung des Tandem-Lesens im Unterricht veröffentlicht.

Unsere Idee bestand nun darin, dass neben einzelnen Texten aber auch ein ganzes Kinderbuch im Tandem gelesen werden könnte. Daraus entstand die Kooperation zwischen Mitarbeiterinnen der Grundschuldidaktik Deutsch der Uni Leipzig, Autor*innen des Klett Kinderbuch Verlags, einem Projektteam des Klett Grundschulverlags und der Stiftung Lesen. Die gemeinsame Entwicklung des Materials „Tandem-Lesen mit den wilden Schulzwergen“ war für alle Beteiligten ein sehr spannender Lernprozess, in dem immer wieder deutlich wurde, was den einzelnen Seiten wichtig ist und wie herausfordernd, aber gleichzeitig auch gewinnbringend und lehrreich es sein kann, Gedanken aus der Leseforschung, Erwartungen an ein Schulbuch und Qualitätsansprüche an Kinderliteratur an einem Tisch zu vereinen.

Die Besonderheit des Materials besteht darin, dass beide Versionen des Textes in einem Wendebuch vereint sind. Je nachdem, von welcher Seite man das Buch öffnet, kann die Geschichte also entweder in der unveränderten Originalversion oder in einer gekürzten und sprachlich vereinfachten Version gelesen werden. Die Farben Blau und Rot dienen dabei zur Erkennung der jeweiligen Niveaustufe (blau für die Originalversion, rot für die vereinfachte Version). Auf diese Weise ist es möglich, dass alle Kinder einer Klasse im Unterricht gemeinsam ein Buch lesen – und das ohne eine offensichtliche Unterteilung in bessere und schlechtere Leserinnen und Leser.

Das Lesetraining mit dem vorliegenden Material ist auf eine Gesamtdauer von etwa 12 Wochen ausgelegt, wobei pro Leseeinheit immer eine Doppelseite vorgesehen ist. Für gezielte Anregungen zur Vorbereitung des Lesetrainings und zur Gestaltung der einzelnen Übungseinheiten haben wir eine Handreichung erstellt, die als Download unter dem Beitrag erhältlich ist.