11. November 2022
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In meinem Blogbeitrag zum Handbuch des Potsdamer Lesetests PLT hatte ich einige interessante Beobachtungen und Ergebnisse aus unserer Normierungsstudie erwähnt – auf mögliche Erklärungen und weiterführende Befunde aber zunächst verzichtet, um den Leser:innen dieses Blogs Gelegenheit zum „Knobeln“ zu geben. Eine der Fragen war, warum manche Tierwörter im Untertest Worterkennen (WE) des PLT von den Lernenden überdurchschnittlich häufig nicht als solche erkannt wurden.


Zur Wahl der Tierwörter für den PLT Untertest Worterkennen (PLT)

Der PLT Untertest zum Worterkennen (WE), in dem in einer Liste mit Nomen die Tierwörter anzukreuzen sind, ist primär ein Geschwindigkeitstest. Es war deshalb sicherzustellen, dass die meisten Wörter korrekt gelesen werden, also eine hohe Genauigkeit erzielt wird. Um dies zu erreichen, haben wir bei der Auswahl der Wörter, deren Schwierigkeit vom 1. bis zum 4. Schuljahr ansteigen sollte, Kriterien angelegt, von denen bekannt ist, dass sie das Worterkennen beeinflussen:

  • Vorkommenshäufigkeit in der Sprache
  • Wortlänge (in Silben und Buchstaben)
  • Konsonant-Vokal-Struktur (Konsonantenhäufungen ja/nein)
  • Komplexität der morphemischen Struktur
  • Vokallängenmarkierung (ja/nein)

Mit durchschnittlichen Werten von 91% im 1. Schuljahr und 94% in den Klassen 2–4 lag die Genauigkeit in der Normierungsstudie tatsächlich recht hoch (Details zur Berechnung der entsprechenden Schwierigkeitsindices s. PLT-Handbuch, S. 78). Einige wenige Wörter sind uns „durchgerutscht“, d.h. die Tierwörter wurden in unserer Studie seltener korrekt angekreuzt, als nach den Auswahlkriterien zu erwarten war.


Welche Tierwörter wurden im Untertest Worterkennen (WE) überdurchschnittlich häufig nicht als solche erkannt?

Hier die relativ schwierigen Wörter (Genauigkeit zwischen 67% und 80%):

1. Klasse: Laus, Hai, Pfau, Geier, Panther, Adler
2. Klasse: Laus, Rind, Geier, Panther, Adler
3. Klasse: Laus, Panther, Marder
4. In der 4. Klasse lag nur die Laus knapp unter 80%, der Geier knapp über 80%; der Zaunkönig erzielte nur 47%.

(Das Rind war noch nicht in der Wortliste für die 1. Klasse vertreten, der Marder noch nicht in den Wortlisten für die Klassen 1 und 2 und der Zaunkönig tauchte erstmals in der Wortliste für Klasse 4 auf.)


Wie lassen sich die unerwarteten Schwierigkeiten erklären?

Die unerwartet fehlerträchtigen Wörter weisen darauf hin, dass neben den oben angeführten Kriterien weitere Wortmerkmale das Lesen beeinflussen können.

Laus: Es war überraschend, dass ein einsilbiges, einfach strukturiertes Wort ohne zusätzliche Schwierigkeit (wie z. B. eine Vokallängenmarkierung) bis ins 4. Schuljahr relativ häufig nicht als Tierwort erkannt wurde. Und unbekannt sollte die Laus doch eigentlich nicht sein!  Wir vermuten, dass hier der Singular die Hürde ist: Der Plural Läuse ist die geläufigere Form. Alternativ könnte man überlegen, ob für manche Kinder Insekten vielleicht nicht in ihr Tierschema passen.

Hai: Einsilber aus einem Konsonanten und einem Vokal sollten eigentlich recht leicht zu lesen sein, aber hier liegt durch das seltene Graphem ‚ai‘ eine Erschwernis vor.

Pfau: Der Pfau ist möglicherweise nicht allen Erstklässlern bekannt; auch ist das ‚Pf‘ nicht leicht zu synthetisieren und könnte in Gegenden, in denen das anlautende /pf/ als /f/ gesprochen wird (z. B. /fe:ɐt/ für ‚Pferd‘), die Sinnentnahme erschweren.

Panther: Wie beim Hai, haben wir haben wir hier ein seltenes Graphem (‚th‘), das auch zu Problemen bei der Silbensegmentierung führen kann: Pant-her anstelle von Pan-ther

Rind, Marder, Zaunkönig: Das Rind ordnen manche Zweitklässler vielleicht eher dem Teller als der Weide zu… Beim Marder (3. Schuljahr) und beim Zaunkönig (4. Schuljahr) handelt es sich vermutlich um eine unzureichende Bekanntheit.

Geier: Beim Geier irritiert sicher die ungewöhnliche rein vokalische Silbengrenze (Gei-er).

PLT - Pfau

Adler: Ein ganz besonders interessanter Fall ist der Adler, der vor allem in den ersten beiden Schuljahren oft ausgelassen wurde. Ein Bekanntheitsproblem hat er vermutlich nicht, aber die phonologische Wortform wird ungewöhnlich verschriftet (mit einem interessanten sprachgeschichtlichen Hintergrund, s.u.). Wird – wie in ‚Adler‘ – der anlautende Vokal innerhalb der ersten Silbe von einem Konsonanten gefolgt (‚Ad‘), wird er in der Regel kurz gesprochen (z.B. ‚Amsel‘ /am.zl/). Der ‚Adler‘ /a:d.lɐ/ ist hier eine Ausnahme und die Länge des Vokals der ersten Silbe ist graphemisch auch nicht markiert.
Natürlich stellt sich die Frage, wie viele Erst- und Zweitklässler:innen solche graphemischen Strukturen schon nutzen. Wenn sie alternativ (wozu Leseanfänger ja tendieren) den ersten Vokal lang und silbisch lesen, haben sie ein anderes Problem: Dann beginnt die 2. Silbe mit der kaum zu bewältigenden Graphemkombination ‚dl‘ /a:.dlɐ/. Und nun das sprachgeschichtliche Highlight: Nach dem Ethymologischen Wörterbuch von Kluge (1999) geht  „Adler“auf die fränkische Form „adelare“ zurück, d.h. das lange /a:/ war ursprünglich silbisch – und die geschriebene Wortform damit regelkonform!

PLT - Laus, Panther, Adler, Hai

Fazit

Die Wortschwierigkeit wird also zusätzlich beeinflusst durch seltene Grapheme, ungewöhnliche Silbengrenzen und nicht regelkonforme Wortstrukturen. Zu wissen, welche Wörter leicht und welche eher schwierig zu lesen sind, ist grundlegend für die Erstellung von Texten für die ersten Grundschuljahre, aber nicht nur: In der Praxis helfen diese Erkenntnisse ebenso, Lesefehler zu verstehen.

Meine nächsten Blogbeiträge werden sich mit differenziellen Ergebnissen aus der PLT Normierungsstudie befassen: Den Unterschieden in den Leistungen zwischen Jungen und Mädchen und den Unterschieden zwischen Schüler:innen mit deutscher oder einer anderen Muttersprache.

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