18. Oktober 2017
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Man kann im Spaß lernen, im Handumdrehen, im Schlaf und im Spiel – und überhaupt ist Lernen ja ein Kinderspiel. Ist es das? Sicher nicht für alle. Der Spaß, den man erlebt, wenn man etwas kann, das man vorher noch nicht konnte, hält bei vielen Menschen nicht lange an. In der Schule sollte das Lernen für die Kinder jedoch möglichst dauerhaft mit Freude und Nachhaltigkeit verbunden sein. Wie soll das gehen?

Bei so viel verschiedenen Schülern! Die einen fordert eine spielerische Aufgabe heraus, den anderen frustriert es, wenn er damit rechnen muss, die Aufgabe nicht zu bewältigen, das Ziel nicht zu erreichen.

Es gibt auch Spiele, in denen alle als Gewinner hervorgehen, weil das Ziel nicht in einer Lösung oder Punktzahl besteht, sondern in der Erfahrung zu einer persönlichen Erkenntnis zu kommen, die nicht vorgegeben ist, die sich in Tiefe und Intensität ganz individuell gestaltet. Wissen kann man vermitteln – oft nicht sehr nachhaltig – Erfahrungen nicht. Sie müssen gemacht werden. Und alle Kinder dürfen sie im szenischen Unterricht mit allen Sinnen erfahren. Meine Schüler und mich hat der Unterricht mit der Szenischen Didaktik – oder auch pädagogisches Psychodrama genannt – so bereichert, dass ich davon berichten möchte.


Was spricht für das Szenische Spiel im Unterricht?

  • Das Klassenklima drückte sich aus in Achtsamkeit und Vertrauen; zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Kompetenzen vertieften sich
  • Der Unterricht wurde durch viel Bewegung und Aktivität belebt
  • Oft agierte die ganze Gruppe, so dass der Einzelne nicht unter Leistungsdruck stand
  • Freude, Spaß, aber auch Nachdenklichkeit stellten sich ein
  • Spontaneität und Kreativität entwickelten sich weiter, und das Selbstwertgefühl wurde gestärkt
  • Durch das szenische Rollenspiel erweiterten die Kinder ihre Ausdrucksmöglichkeiten mit Mimik, Gestik, Bewegung, Geräuschen –eine Unterstützung für sprachlich weniger aktive Kinder
  • Schlüsselqualifikationen wie sprechen, darstellen, präsentieren wurden verstärkt.

Wer hat die Methode entwickelt und wie entstand sie?

Wir gehen zurück ins 20. Jahrhundert. Wien, die Zeit als Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelte. Sein Zeitgenosse war der armenische Arzt Jakob L. Moreno. Er war wie viele andere Armenier im Krieg nach Wien geflüchtet. Anfangs ohne Arbeit verbrachte er viele Stunden im Wiener Wald, wo er die vielen Kriegskinder beobachtete, die tagsüber von ihren Vätern oder Müttern allein gelassen waren, weil diese sich um das Überleben der Familie kümmern mussten. Er sah wie diese Kinder das Erlebte – Flucht, Alleingelassensein, Not, Angst, Hunger, aber auch Geborgenheit durch die Eltern und Geschwister – nachspielten. Sie übernahmen dabei die Rollen ihrer Väter oder Mütter, anderer Personen oder Tiere, übernahmen ihre Worte, Handlungen und Gefühle und verarbeiteten auf diese Weise ihre Schrecken und Ängste.

Durch diese Beobachtungen entdeckte Moreno die Kraft des Rollenspiels und entwickelte daraus als sowohl therapeutisches wie auch pädagogisches Psychodrama eine ganz besondere Lernmethode.

Morenos Grundannahme ist, dass jeder Mensch der Schöpfer seines Lebens(wegs) ist. Du allein entscheidest dich, was du aus deinem Tag (Leben) machen möchtest. Du hast die Freiheit (und die Verantwortung) dein Dasein so zu leben, wie es dir am besten möglich ist. Ich denke, dass er dadurch die Eigenverantwortung des Menschen hervorhob aber auch dessen Kraft und Zuversicht sah, das Leben meistern zu können.


Was ist das Kernstück der Methode?

Das Kernstück seiner Methode besteht im Rollentausch im szenischen Spiel.

Das Ich begibt sich in eine Rolle, die eigene oder eine angenommene und spielt auf einer Bühne Situationen, Gedanken, Gefühle, Handlungen im Stegreif aus.
„Stegreif lässt das Unbewusste unverletzt (durch das Bewusste) frei steigen“, sagt Moreno. Das Kind kann im Spiel seine Erfahrungen autonom machen, ohne fremden Eingriff.

Moreno betonte immer wieder den entscheidenden Unterschied: Wenn wir (in der Schule) über Dinge reden, erfassen wir sie mit dem Verstand. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir sie erlebt und uns zu eigen gemacht haben – hier rein, da raus! Wird der Lernstoff im Rollenspiel erfahren, sind Gefühle und alle Sinne beteiligt, und bereichernde Elemente wie Fantasie, Wahrnehmung und Kreativität werden spontan und nutzbringend eingesetzt.

Im szenischen Rollenspiel sind unserer Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt:

 

Ich kann meinen Bruder, meinen Kugelschreiber, meine Lieblingstasse, meinen Rektor, eine Wolke, eine Prinzessin, meinen verstorbenen Opa, eine Hexe, mich in zehn Jahren vorstellen und in einer Rolle ausspielen. Neues, Bekanntes, Unglaubliches, Erschreckendes, Erfreuliches, Interessantes kann ich darin erleben.

Vorstellungskraft bewiesen die Waisenkinder im Wiener Wald als sie ihre Familienspiele durchlebten. Auf Vorstellungskraft beruht auch das szenische Rollenspiel.
Gerade Grundschulkinder haben in meiner Erfahrung keinerlei Probleme in eine Rolle zu schlüpfen und sie auszuprobieren. Sie haben sich jedes Mal gefreut, wenn die Bühne „geöffnet“ wurde und sie sich als Räubertochter, Raumfahrer oder irgendeine Märchenfigur erleben konnten. Das geschah nicht nur im literarischen Unterricht bei Märchen, Prosatexten, Gedichten, Aufsätzen und Erzählungen. Meine Kinder spielten auch höchst motiviert die „wörtliche Rede“, „zusammengesetzte Nomen“, den „Kreislauf des Wassers“ oder „unsere Stadt“.

Wie einfach diese Methode von jeder interessierten Kollegin/Kollege angewendet werden kann, möchte ich an einigen Beispielen zeigen.


Wichtige Begriffe kurz und knapp erläutert

Zuvor ein paar wichtige Begriffe, die in den folgenden Artikeln erscheinen werden:

Anwärmung: Eine Vorstellungsübung, die Kreativität, Fantasie und Bewegung weckt und zum Thema der Stunde hinführen kann. „Setze deinen
Körper in Bewegung, dann setzt sich auch dein Geist in Bewegung!“ formulierte Moreno schon vor 100 Jahren.

Bühne: Mit einem Kreidestrich auf dem Boden des Klassenzimmers kann man den Bühnenbereich kennzeichnen, der deutlich von der realen Welt getrennt sein soll. Nach jedem Spiel werden die Spieler aus ihrer Rolle wieder in ihre eigene Identität entlassen.

Interview: Um dem Spieler den Einstieg in eine Rolle zu erleichtern, ist ein „Interview“ hilfreich, z.B.: wer bist du gerade, was machst du, wie siehst du aus…

Rollentausch: Ein Ritual, mit dem sich die Spieler in eine andere Identität begeben. („Ich bin jetzt ein Regentropfen und werde gleich aus einer dunklen Wolke fallen…“)

Doppeln: Ein Kind aus der Klasse ergänzt spontan nach seiner Idee die Aussage des Spielers und erweitert ggf. dessen Erfahrung.

Standbild: Ein nonverbaler Ausdruck oder die Haltung eines Einzelnen oder einer Gruppe, um eine Befindlichkeit, ein Gefühl oder ein Thema
darzustellen.

Teilen/Reflexion (Sharing): Nach dem Spiel, wenn alle wieder in ihrer Identität in der Klasse sitzen, sollte jeder reflektieren, wie es ihm in seinem Spiel ergangen ist, wie er sich gefühlt hat. Wenn er Zuschauer war kann er seine Gedanken und Gefühle, die die Spieler bei ihm ausgelöst haben, mitteilen, ohne sie jedoch zu beurteilen oder kritisieren.


Anwendungsbeispiele für Szenisches Spiel

Heute möchte ich Ihnen nun einige Anwärmungen vorstellen. Sie sind an keine Altersstufe gebunden. Ich habe sie teilweise mit Erwachsenen, teilweise mit Erstklässlern durchgeführt; alle haben gerne mitgemacht.

Im Sport wärmen wir uns auf bevor es an die eigentlichen Übungen geht. Im szenischen Spiel wärmen wir die Kinder auf um sie auf den Unterricht vorzubereiten. Mit der Anwärmung können sie einen Bezug zu sich und ihrer Befindlichkeit herstellen. Dies kann musikalisch geschehen:

„Bewege dich im Raum nach dieser Musik. Lass deinen Körper in Schritten oder anderen Bewegungen den Tönen folgen, so wie das dein Körper möchte. Sprich dabei mit niemandem und bleibe ganz bei dir…“

Wir können optische Anreize geben:

„Gehe durch den Raum und schau dich um. Entdecke etwas, das dich interessiert, das dir gefällt oder nicht gefällt oder worüber du dich wunderst… Halte drei oder vier solche „Bilder“ in deinem Kopf fest wie mit einem Fotoapparat…

Wir können emotionale Momente vorgeben:

„Stell dir vor, unser Klassenzimmer ist ein großes Labyrinth. Du kennst den Ausgang nicht, willst ihn aber unbedingt finden, denn es wird schon dunkel. Laufe nun in alle möglichen Richtungen und zeige mit deinem Körper, wie du aufgeregt oder sogar ängstlich bist. Wenn ein Glockenton erklingt, hast du den Ausgang gefunden…“

Heute fühle ich mich himmelblau

Heute könnt ihr einmal auf besondere Weise mit Farben spielen. Jeder geht erst einmal durch den Raum ohne miteinander zu reden und ohne jemanden zu berühren. Du bist ganz bei dir. Versuche nun einmal zu erkennen, welche Farbe du heute bist. Ich meine nicht, welche Farbe deine Lieblingsfarbe ist oder welche dir besonders gefällt. Spüre in deinen Körper hinein, wie er sich heute anfühlt. Ist dein Gefühl eher blau oder gelb oder orange… Wenn du meinst, eine Farbe gefunden zu haben, bewege dich ganz so, wie es deiner Meinung nach der Farbe entspricht…

Wenn du dich jetzt umschaust, entdeckst du vielleicht Kinder, die sich ganz ähnlich wie du bewegen. Schließe dich ihnen an. Wenn die Musik aufhört, darfst du dich mit den anderen Kindern austauschen, welche Farbe sie heute waren und ob deine Farbe mit den anderen, denen du gefolgt bist, übereingestimmt hat.

Sehr beliebt bei den Kindern sind auch immer wieder die „So-tun-als-ob-Spiele“. Sie erwärmen die Kinder zudem auch für eine Rolle, die sie vielleicht im nachfolgenden szenischen Rollenspiel übernehmen möchten:

So-tun-als-ob-Spiele leite ich meist ein mit: „Stell dir vor…“ Die Ansprache mit „du“ hat sich bewährt, weil sich jedes einzelne Kind in der Klasse gemeint fühlt.

„Stell dir vor, du läufst über eine große Wiese mit lang gewachsenen Gräsern, die dich kitzeln…jetzt läufst du über ziemlich spitze Steine an einem Flussufer…nun über Sand…durch einen Bach mit angenehm warmem weichen Honig…über einen Waldboden…“

„Stell dir vor,du bist in einem Zoo. Wähle dir ein Tier aus, das du gern sein möchtest… Suche dir einen Platz im Raum und bewege und verhalte dich wie dieses Tier…Du darfst nicht sprechen, aber die Laute des Tieres darfst du natürlich von dir geben…“

„Stell dir vor, du bist eine Pflanze…Wo wächst du? Wie wächst du? (gerade, krumm, flach, in die Höhe…) Zeige, ob du Früchte oder Blüten hast, zeige ob du in der heißen Sonne stehst oder ob du gerade gegossen wirst…“

„Stell dir vor, du bist erwachsen und arbeitest in einem Beruf…Welcher Beruf wäre das? Zeige wo und wie du arbeitest…Suche dir ein anderes Kind als Partner. Errätst du dessen Beruf? … Du darfst dich mit deinem Partner austauschen und über deinen Beruf berichten, z.B.: Ich bin in einer großen Firma…Ich arbeite in der Natur, meistens auf einem Schiff…“

Nach 2-3 Minuten etwa beende ich die Anwärmung mit einem akustischen Signal (Gong, Glocke, Klangschale o.ä.).
„Haltet jetzt an und kommt langsam zurück in unser Klassenzimmer. Streife deine Rolle nun wieder ab (ich mache es vor, wie wenn ich Wasser von Armen und Beinen abwische) und erzähle, wie es dir ergangen ist.

  • Wie hat dir dieses Spiel gefallen?
  • Was hast du dabei erlebt?
  • Wie hast du dich gefühlt?

Die Wirkungen des Szenischen Spiels

Alle szenischen Übungen verstärken das Bewusstsein für Achtsamkeit und Respekt.

Das heißt: Alle Antworten der Kinder sind gleichwertig, es gibt keine Kritik, Verbesserung oder Beurteilung! Nur so kann Vertrauen entstehen, und die Kinder werden offen mit ihren Erfahrungen umgehen.

Die Kinder müssen erkennen können, dass jeder ein Recht auf sein persönliches Erleben hat, in dem es kein Richtig oder Falsch gibt. Unterbinden Sie sofort, wenn ein Kind sagt: „Das finde ich aber blöd, dass du Angst hattest…!“

Auch wenn Kinder die merkwürdigsten Eindrücke schildern, müssen wir sie gelten lassen. Mir haben dann Formulierungen geholfen wie: „Das ist ja interessant, was du erzählst, so habe ich das noch nie gesehen (mir vorgestellt, empfunden…)!“

All diese Übungen wollen nicht vorschreiben, sondern Raum geben und durch Impulse, Gesten, Material und Akustisches anregen. Sie ermöglichen allen Schülern ganz nach ihrer Individualität sich aktiv zu betätigen, Erlebtes zu reflektieren, Anforderung und Entspannung zu erfahren und soziale Kompetenz zu gewinnen.

Nach dieser Anwärmung zum szenischen Rollenspiel geht es im nächsten Artikel weiter mit literarischen Texten und Gedichten in Szene gesetzt.
Ich hoffe, ich konnte Sie neugierig machen.

Bettina Rinderle

Literatur: „Stressfreier Unterricht“, AOL Verlag, Bettina Rinderle

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