31. Oktober 2022
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Heterogenität im Klassenzimmer

Jede Klasse ist heterogen. Wir sind gefordert, genau zu diagnostizieren und zu fördern. Doch wie soll das gelingen, wenn ich Schülerinnen und Schüler in der Klasse habe, denen Basiskompetenzen fehlen? Vor dieser Frage stand ich zu Beginn des Schuljahres, als ich ein drittes Schuljahr übernahm. Einige Kinder schienen noch kein tragfähiges Stellenwertverständnis aufgebaut zu haben, während andere bereits mühelos bis 1000 und darüber hinaus rechneten.


Zahl des Tages

Begonnen habe ich mit der „Zahl des Tages“. Wir haben zunächst jeden Tag eine zweistellige, später eine dreistellige Zahl, ausgesucht und untersucht. Zu Beginn habe ich Fragen gestellt und die Kinder haben geantwortet. Als das Grundprinzip verstanden war, haben die Schülerinnen und Schüler die Moderation übernommen.

Sie haben die Zahl im Hinblick auf folgende Eigenschaften untersucht:

  • das Zahlwort: Die Zahlennamen im Deutschen sind nicht leicht zu bilden. Wir haben sie verglichen mit den entsprechenden Zahlworten auf türkisch, chinesisch, griechisch, englisch und russisch.
  • die Stellenwerte: In der Stellenwerttafel wurden die H, Z und E notiert. Außerdem wurden die Zahlen mit magnetischem Dienes-Material dargestellt.
  • Zahlenkarten: Die Kinder waren motiviert die entsprechenden Zahlenkarten zu zeigen.
  • Gerade oder ungerade?: Anfangs gab es die Idee, dass eine Zahl nur dann gerade sein kann, wenn jede einzelne Ziffer gerade ist. Im Laufe der Zeit erkannten die Schülerinnen und Schüler, dass die Einer wichtig sind. Wir haben deshalb darauf geachtet, immer eine Begründung mitzuliefern.
Tafelbild Zahl des Tages
  • Größer als/ kleiner als: Einige Schüler nannten sehr kleine und sehr große Zahlen als Beispiele. Andere wählten den Vorgänger und Nachfolger aus. Neben dem Einprägen der Symbolik war es hier besonders wichtig, im ganzen Satz zu formulieren.
  • Nachbarzahlen: Zu Beginn haben wir nur den Vorgänger und Nachfolger gesucht. Im Laufe der Zeit kamen Nachbarzehner und Nachbarhunderter hinzu.
  • Aufgabe: Eine Aufgabe mit dem Ergebnis der Zahl des Tages sollte gesucht werden. Hier zeigte sich eine große Bandbreite an Aufgaben aus allen vier Rechenarten. Ein Schüler überraschte uns immer wieder mit komplizierten Multiplikationsaufgaben. Andere Kinder suchten gerne Kettenaufgaben.
  • Die Hälfte/ das Doppelte: Im Laufe der Zeit reifte die Erkenntnis, dass man zu jeder Zahl das Doppelte bilden kann, aber dass es nur bei geraden Zahlen eine ganzzahlige Hälfte gibt. Einige Kinder teilten jedoch auch schon ungerade Zahlen mit Rest oder mit 0,5.
  • Rechenstrich: Zu Beginn habe ich eine Start- und Endzahl am Rechenstrich markiert. Die ersten Versuche, die Zahl des Tages zu verorten, waren eher ein Abzählen. Mit der Zeit setzte sich die Idee durch, jeweils die Mitte zu suchen und sich so der Zahl des Tages anzunähern. Später wählten die Kinder einen eigenen geeigneten Abschnitt auf dem Rechenstrich aus.
  • Quersumme: Um die Motivation langfristig aufrechtzuerhalten, kamen einzelne Punkte erst im Laufe der Zeit dazu. Die Quersumme habe ich als letztes eingeführt. Seitdem war sie sehr beliebt bei allen Schülerinnen und Schülern.
  • Im weiteren Verlauf könnten die Teilbarkeitsregeln ergänzt werden.

Was bringt die „Zahl des Tages“?

Kopiervorlage Zahl des Tages

Ich habe die Zahl des Tages zu Beginn täglich, später einmal wöchentlich über ein halbes Jahr durchgeführt. Manchmal gab es auch ein Arbeitsblatt zur „Zahl des Tages“ in den Hausaufgaben. Die Kinder hatten Spaß daran, selbst zu moderieren. Das Ritual gab allen Kindern Sicherheit. Nach einem halben Jahr waren alle Kinder in der Lage, eine Zahl auf verschiedene Weise darzustellen. Es hatte sich ein tragfähiges Zahlverständnis entwickelt. Während schwächere Schülerinnen und Schüler sich anfangs nur eine Eigenschaft heraussuchten, die sie nannten (z.B. das Zahlwort), trauten sie sich im Laufe der Zeit immer mehr zu und beteiligten sich zunehmend häufiger am Unterricht.


Aufgabe des Tages

Im zweiten Halbjahr erschien es mir sinnvoll, das Operationsverständnis zu stärken. Ich hatte bemerkt, dass viele Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten mit Sachaufgaben hatten und eher auf das Ergebnis einer Aufgabe fixiert waren, als über ihren Rechenweg nachzudenken. Zunächst wählte ich einfache Additionsaufgaben ohne Zehnerübergang. Später kamen Aufgaben mit Zehnerübergang sowie Subtraktions-, Multiplikations- und Divisionsaufgaben hinzu. Als erstes notierten die Kinder einen Rechenweg. Manchmal notierten wir verschiedene Wege, die wir miteinander verglichen. Anschließend zeichneten sie ein Bild zur Aufgabe, indem sie die Aufgabe mit Dienes-Material symbolisierten oder am Rechenstrich lösten. Besonders beim Rechenstrich entstand Redebedarf, da die Schülerinnen und Schüler mitunter andere Sprünge favorisierten. Schließlich notierten sie das Ergebnis.

Tafelbild Aufgabe des Tages

Die größte Begeisterung bestand im Erzählen einer Rechengeschichte. Gab es anfangs nur Geschichten mit Äpfeln und Bananen, so wurden diese im Laufe der Zeit zunehmend vielfältiger und realistischer. Im Zahlenraum bis 1000 erschien es doch eher unwahrscheinlich 162 Bananen zu futtern. Passender war da die Idee, dass 162 Sterne am Himmel leuchten oder 162 Eicheln von einem Baum herabfallen. Eine Schülerin machte sich einen Spaß daraus durch die Zeit zu reisen und ihr neues Alter zu berechnen. Wichtig war es mir, dass die Kinder eine grundlegende Vorstellung der Operation erhielten. Als überraschend schwierig erwies sich das Bilden der Aufgabenfamilie. Hier hatten viele Kinder den Zusammenhang von Aufgabe, Tauschaufgabe und Umkehraufgabe noch nicht verinnerlicht.

Ein weiterer Aspekt war das Bilden einer Überschlagsrechnung und schließlich die Probe. Einige Kinder nutzten den Überschlag als Probe, andere bildeten die Umkehraufgabe oder machten eine Einerprobe. Wichtig war es mir, zu thematisieren, warum wir eine Probe machen und worauf wir genau achten müssen. Denn häufig habe ich Kinder gesehen, die im Heft schematisch die Probe bilden, aber nicht wissen, wozu und welche Zahlen sie nun miteinander vergleichen müssen. Ein weiterer Aspekt der „Aufgabe des Tages“ lag in der Benennung der einzelnen Teile einer Gleichung in Fachsprache (z.B. 1. Summand, 2. Summand, Summe).


Was bringt die „Aufgabe des Tages“?

Kopiervorlage Aufgabe des Tages

Im Gegensatz zur „Zahl des Tages“ nahm die „Aufgabe des Tages“ deutlich mehr Zeit in Anspruch. Als ich merkte, dass die Motivation nachließ, habe ich die Kinder die Aufgabe des Tages auf einem Arbeitsblatt oder im BookCreator bearbeiten und anschließend vorstellen lassen. Es zeigte sich, dass sich das Operationsverständnis deutlich verbesserte. Die Kinder konnten zunehmend bessere Rechengeschichten erzählen und sie hatten Ideen, wie sie eine Aufgabe schrittweise oder mit Hilfe eines Rechenstrichs oder Material lösen können. Das Einprägen der Fachsprache führte dazu, dass die Schülerinnen und Schüler viel besser in der Lage waren, Entdeckungen genau zu artikulieren („Das ist so, weil der 1. Summand um 1 größer wurde und der 2. Summand um 1 verringert wurde.“).


Kann ich das auch in jahrgangsgemischten Klassen machen?

Ja! Ich habe eine Vertretungsstunde in unserer jahrgangsgemischten Klasse 1/2 gemacht. Mir wurde gesagt, ich solle mit den Erstklässlern Umkehraufgaben erarbeiten und mit den Zweitklässlern die 3-er-Reihe üben. Ich notierte die Aufgabe 3 + 6 = __ als „Aufgabe des Tages“. Als erstes meinten die Kinder, das sei sehr leicht und nannten das Ergebnis. Dann kam zu meiner Freude ein Schüler auf die Idee, dass man aus der Aufgabe auch 3 + 3 + 3 = 9 machen könne. Ein zweiter bildete sogleich die Malaufgabe. Ein dritter fragte, ob man auch teilen könnte. Als ein vierter erklärte, teilen können sie noch nicht, haben wir es einfach mal ausprobiert.

Tafelbild Zahl des Tages jahrgangsgemischt

Und schon hatte eine Schülerin die Idee 9 durch 3 zu teilen. Da wir nun eine Additions-, eine Multiplikations- und eine Divisionsaufgabe hatten, suchten wir noch nach einer Subtraktionsaufgabe zu unserer ursprünglichen Aufgabe. Eine Schülerin wusste, dass man diese Aufgabe Umkehraufgabe nennt. Zum Schluss malte ein Schüler noch eine Rechengeschichte in zwei Bildern an die Tafel: „Zuerst sind es 3 Schlangen, dann kommen 6 Schlangen hinzu.“

Auch in jahrgangsgemischten Gruppen ist es also möglich, die „Aufgabe des Tages“ als gemeinsamen Start zu verankern. Gleiches gilt für die Zahl des Tages. Hier bietet sich die Chance Analogien zu verdeutlichen, indem man eine einstellige Zahl (z.B. die 8) für die Erstklässler wählt und eine analoge zweistellige Zahl (z.B. die 38 oder auch die 80) für die Zweitklässler. Das Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden bietet Gelegenheiten zur Kommunikation über Zahlen.


Fazit

Es reicht oft nicht aus, ein Thema in zwei bis drei Wochen zu behandeln und dann das nächste Thema zu starten. Viel effektiver habe ich es empfunden, ritualisiert das Zahl- und Operationsverständnis zu fördern. Durch die „Zahl des Tages“ und die „Aufgabe des Tages“ können Vernetzungen hergestellt werden. Die Kinder agieren eigenaktiv und können bei der Auswahl der Zahl oder Aufgabe den Unterricht mitgestalten. Durch die Vielzahl an möglichen Aspekten haben alle Kinder die Chance, sich einzubringen und voneinander zu profitieren.


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