31. März 2023
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Didaktische Vorentlastung – Schlüssel zu realistischeren Zielen im Lese-Lern-Prozess

Wenn ich an die ersten Lesestunden in einem dritten Schuljahr während meiner Ausbildungszeit denke, erinnere ich mich immer wieder daran, dass ich oft nicht verstehen konnte, worin die Schwierigkeiten einzelner Kinder beim Lesen begründet sind.

Im Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen wurde oft gesagt: „Die Kinder müssen viel mehr üben.“ Aber ist das wirklich der einzige Grund?

Falsche Betonungen bei Satzzeichen, Ausspracheschwierigkeiten bei unbekannten Wörtern, das Erlesen langer Wörter führen regelmäßig zu Schwierigkeiten. Ein stockender Lesefluss behindert aber dann immer wieder die Sinnentnahme und nicht zuletzt auch den Spaß am Lesen.

Wenn beim Erlesen komplexer Texte im Unterricht Schwierigkeiten auftreten, ist es seit jeher unser Bestreben als Lehrkraft, den Kindern bei deren Bewältigung zu helfen. Das Problem liegt darin, dass wir oft Schwierigkeiten beheben, die im Nachhinein oder bei der Auseinandersetzung mit einem Lesetext selbst auftreten. Durch dieses reaktive Vorgehen zeigt sich aber gerade bei schwachen Lesern, dass die Bereitschaft, dem Text eine Chance zu geben, eventuell schnell erloschen ist.

Ich habe mir damals viele Gedanken gemacht, mit welchen Mitteln und Methoden mein Deutschunterricht diesen Schwierigkeiten entlastend entgegenwirken kann.

Niko schaut ins Buch

Durch Unterstreichen und Trainieren schwieriger Wörter an der Tafel, Lesen mit verteilten Rollen, inhaltliche Thematisierung des neuen Wortschatzes und andere Übungen habe ich versucht, Schwierigkeiten vorzubeugen. Um die Motivation gerade schwacher Leserinnen und Leser zu fördern, war es mir ein Anliegen, eine Vertrautheit mit den schwierigen Textpassagen bereits vor dem eigentlichen Lesen des Textes zu erzeugen. Die Konzeption solcher Aufgaben hat im Vorfeld oft viel Zeit gekostet.


Konzept der didaktischen Vorentlastungen im Niko-Lesebuch

Niko Lesebuch 4 S.12 und 13

Niko 4 Lesebuch Seite 12 und 13

Das Lesekonzept bei Niko wird meinen damaligen Schwierigkeiten gerecht und setzt genau da an, wo die Probleme der Leserinnen und Leser sich schon im Vorfeld erahnen lassen.

Mit dem Ziel einer didaktischen Vorentlastung langer und komplexer Lesetexte werden unterschiedliche methodisch-didaktische Bausteine eingesetzt. Die Konzeption entwickelt spezifische Stufen, die die Schülerinnen und Schüler auf einen Weg führen, den langen Text trotz seiner Schwierigkeiten zu bewältigen.

Durch diese didaktischen Bausteine werden textspezifische Schwierigkeiten extrahiert, inhaltlich aufbereitet und geübt.

Dieses Vorgehen sichert den Lesefluss ab, führt so zu einer deutlich stärkeren Sinnentnahme und erhöht die Lesemotivation erheblich. Durch wiederkehrende Übungen routiniert sich die Auseinandersetzung mit den immer neuen Lesetexten. Dadurch verändert sich auch der Blick der Kinder auf unbekannte Texte nachhaltig. Zweifel an der eigenen Lesekompetenz rücken so für eine stärkere inhaltliche Auseinandersetzung auch für die Kinder immer mehr zur Seite.


Bausteine der Vorentlastung auf den Lese- und Sprachförderseiten

Das Konzept der Lese- und Sprachförderseiten im Niko Lesebuch wirkt den oben beschriebenen Problemen proaktiv entgegen.

Im Rahmen einer didaktischen Analyse der spezifischen Textschwierigkeiten haben die Autorinnen Übungen entwickelt, diesen entgegenzuwirken. Ein paar davon möchte ich im Folgenden exemplarisch nennen:

  • Training des Leseflusses durch Aufgaben zum wiederholten und genauen Lesen schwieriger und/oder langer Wörter aus dem Text, bei denen beispielsweise durch farblich markierte Silben der Prozess des Erlesens unterstützt wird
Niko Lesebuch 4 Seite 12 oben

Ausschnitt aus Niko 4 Lesebuch Seite 12


  • Übungen zur Heranführung an die Wortbedeutung weniger geläufiger Wörter, bei denen die Kinder beispielsweise Wörter mit verwandten Bedeutungen verbinden
Niko Lesebuch 4 Seite 12 Aufgabe 2

Ausschnitt aus Niko 4 Lesebuch Seite 12

  • Fokussierung auf inhaltliche komplexere Situationszusammenhänge durch Aufgaben, in denen die Kinder einen kurzen Textausschnitt lesen und Fragen dazu beantworten
Niko Lesebuch 4 Seite 13 Aufgabe 5

Ausschnitt aus Niko 4 Lesebuch Seite 13


  • Heranführung an unbekannte Wörter, durch kurze Erklärungstexte in Silbenschrift
Niko Lesebuch 4 Seite 26 Aufgabe 4

Ausschnitt aus Niko 4 Lesebuch Seite 26

  • Förderung des genauen Lesens durch Erkennen bestimmter Wörter in Wortschlangen oder durch Übungen, in denen die Kinder entscheiden müssen, welches von zwei ähnlich klingenden oder aussehenden Wörtern passt
Niko Lesebuch 4 Seite 87 Aufgabe 5

Ausschnitt aus Niko 4 Lesebuch Seite 87


Blick in den Unterricht – Regenbogenkind (Niko 4 Lesebuch S. 28 f) in einer vierten Klasse

Stellen wir uns vor, dass Kinder ohne Vorentlastung einen Text lesen würden, in dem das Wort Down-Syndrom vorkommt. Jeder von uns kann sich die fragenden Blicke der Kinder und das stockende Erlesen des Fremdwortes genau vorstellen. Wahrscheinlich würde es noch begleitet werden durch ein „Hä?“ Spätestens in diesem Moment ist der Lesefluss so stark unterbrochen, dass besonders die leseschwächeren Kinder den Überblick über den Textzusammenhang verlieren und Probleme mit dem Textverstehen haben. In dem Text Regenbogenkind geht es aber genau darum, dass ein Junge ein Schwesterchen bekommt. Das Baby ist ein besonderes Baby. Es ist ein Down-Syndrom-Kind.

Zu Stundenbeginn werden die Kinder mit der Überschrift Regenbogenkind konfrontiert. Sie äußern sich mit ihren Assoziationen und zeigen mir als Lehrkraft, welche Erwartungshorizonte sich bei ihnen öffnen. So interagieren die Kinder bereits vor dem eigentlichen Lesen aktiv mit dem Text, indem sie sich über die Überschrift Gedanken zum Inhalt machen.

Niko und Hugo Hörnchen mit Regenbogen

Tafelbild Regenbogenkind

Das Ergebnis im Bild zeigt, wie weit der Erwartungshorizont eigentlich reicht, der sich bei den Kindern mit der Überschrift aufbaut. Für mich als Lehrkraft ist das ein wichtiger Eindruck. In diesem Moment wird mir klar, mit welchen Gedanken und Ideen die Kinder in den Text starten würden, wenn sie jetzt lesen. Die Erwartungen reichen von einem lebenden Regenbogen und dem Einhorn – was eher weit vom eigentlichen Inhalt entfernt ist – bis dahin, dass es in der Geschichte um ein besonderes Kind geht – was dem eigentlichen Inhalt sehr nahekommt.

Im Anschluss an diese Vorgedanken beschäftigen sich  die Kinder proaktiv mit den Lese- und Sprachförderseiten (Lesebuch Niko 4 S. 26 und 27). Ich nutze bei der Bearbeitung der Seiten die Teams zum Partnerlesen. So können die Kinder beispielsweise schwere und lange Wörter gemeinsam trainieren.


Die Bearbeitung der beiden dem eigentlichen Text vorangehenden Seiten führt dazu, dass die Kinder sich beispielsweise vor dem Lesen ganz bewusst mit dem Begriff Down-Syndrom auseinandersetzen. Es wird ihnen als ein Fremdwort vorgestellt. Die Niko-Sprechblase zeigt, wie man das Wort ausspricht und ein kurzer Erklärtext füllt dieses schwere Wort mit Inhalt.

Das Beispiel zeigt, wie eine vorentlastende Übung eine mögliche Stolperstelle für den Lesefluss und das Leseverstehen verkleinern kann. Im Anschluss an die Bearbeitung der Lese- und Sprachförderseiten lesen die Kinder den Text im Rahmen des Partnerlesens.

Ich als Lehrkraft merke beim Zuhören in den einzelnen Teams, dass der Lesefluss nicht so oft gestört ist. Am Stundenende zeigen die Kinder beim Blick auf unsere Sammlung von Assoziationen zur Überschrift, dass sie den Textzusammenhang gut verstanden haben. Sie können durch Anwendung der Begriffe beschreiben, dass es in der Geschichte um ein besonderes Kind geht und auch das Besondere können sie gut erklären.

Niko Aussprache Down-Syndrom

Allen, die meinen letzten Blogartikel gelesen haben, wird der nächste Satz ein bisschen bekannt vorkommen: Genau wie das Partnerlesen sind sicherlich auch die vorentlastenden Übungen nicht das Allheilmittel für Leseschwierigkeiten und Hürden im Leseprozess. Es bietet aber eine weitere Möglichkeit, die Entwicklung der Kinder hin zu einer Lesekompetenz effektiv zu unterstützen.

Meine Erfahrungen mit der Neukonzeption des Lesebuchs Klasse 4 haben mich in meiner damaligen Annahme bestärkt: Eine didaktische Vorentlastung erhöht in meiner Lerngruppe erkennbar den Lesefluss, das Leseverständnis und die Lesemotivation – vielleicht nicht bei allen in gleichem Maße, aber bei jedem ein bisschen.

Probiert die Möglichkeiten der vorentlastenden Textaufbereitung gerne aus.

Ich wünsche euch viel Freude dabei und hoffe, dass wir dadurch mehr Kinder in ihrem Lese-Lern-Prozess unterstützen können.

Partnerlesen
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