14. April 2022
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Worauf ist bei der Leseförderung mehrsprachiger Schüler:innen besonders zu achten? Grundsätzlich gelten die gleichen Prinzipien wie bei der Leseförderung einsprachig aufwachsender Schüler:innen, die ihr in Blog-Beitrag IV findet. Allerdings muss Leseförderung bei Mehrsprachigkeit noch mehr leisten: Leseförderung bei Mehrsprachigkeit ist immer auch integrierte Sprachförderung. Zu erfolgreichen didaktischen Ansatzpunkten erfahrt ihr gleich mehr im Kontext der Förderung des Leseverstehens. Zunächst zum Worterkennen/Dekodieren, bei dem es – auch außerhalb von Wortschatzproblemen – spezifische Probleme bei Mehrsprachigkeit geben kann.


Fördern des Worterkennens/Dekodierens

Bei Kindern mit einer noch relativ kurzen Kontaktdauer mit der deutschen Sprache ist sicherzustellen, dass sie mit allen Phonemen des Deutschen vertraut sind. Viele Sprachen haben ein anderes Vokalsystem als das Deutsche, enthalten z. B. nicht die Vokale /œ/, /Ø:/ und /Ƴ/, /y:/. Wurden Schüler:innen schon in ihrer Erstsprache alphabetisiert, sind zudem Interferenzen möglich, wenn sie die ihnen bekannten Phonem-Graphem-Korrespondenzen auf das Deutsche übertragen (z. B. <z>: stimmhaftes s im Türkischen und Englischen). Vermeidet die Erstsprache Konsonantenhäufungen, kann es beim Erlesen deutscher Wörter zur Einfügung von Vokalen zwischen die Konsonanten kommen (z. B. [bəro:t] zu <Brot>).

Wie die Synthese von Konsonantenverbindungen (auch ein Stolperstein für viele einsprachige Erstklässler:innen!) geübt werden kann, habe ich in meinem Blog-Beitrag IV skizziert. Schwierigkeiten beim Erlesen langer Wörter können über die Silben- oder Morphemgliederung überwunden werden. Besonders hilfreich ist hier auch der Ansatz von Röber (2015), die anhand der im Deutschen häufigen trochäischen Wortform (z. B. <Hose>, <Bluse>, <Hände>, d.h. Zweisilber mit betonter erster Silbe) auch in typische Intonationsmuster des Deutschen einführt.


Fördern des Leseverständnisses

Textentlastung

Um auch Lernenden mit noch reduzierten Deutschkenntnissen das Leseverstehen zu ermöglichen, kann die Leseschwierigkeit von Texten reduziert werden. Dies geschieht über eine Vereinfachung der sprachlichen Strukturen sowohl auf der Wort- als auch auf der Satzebene. Auf der Wortebene ist im Kontext von Mehrsprachigkeit vor allem die Worthäufigkeit relevant, auf der Satzebene geht es um die Bevorzugung von Hauptsätzen, der direkten anstelle der indirekten Rede, von Aktiv– anstelle von Passivkonstruktionen. Diese und weitere Aspekte werden in den letzten Jahren unter dem Begriff der „Leichten Sprache“ systematisiert (vgl. Bredel & Maaß 2018), haben aber im Kontext der Lesbarkeitsforschung schon eine längere Tradition und wurden bei bei der Erstellung von Texten für Leseanfänger und ältere langsam lesen lernende Kinder angewandt (vgl. Regenbogen-Lesekiste I und II, vpm/Klett Verlag; Scheerer-Neumann 1994).

Als Lehrkräfte könnt ihr selbst Texte mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden erstellen; daneben gibt es interessante Angebote der Schulbuchverlage, teilweise sogar mit 3-fach differenzierten Texten wie z.B. im Lehrwerk Niko vom Klett-Verlag. So unterscheiden sich im Lesebuch Niko 2 die Texte der drei Schwierigkeitsstufen in der Textlänge, dem Satzbau, der Worthäufigkeit und auch in der Schriftgröße. Auf der leichtesten Stufe werden die Wörter zudem in Silbengliederung vorgegeben. Im Unterricht ist vor allem bei Sachtexten zu beachten, dass die kürzeren Texte in der Regel auch weniger Informationen enthalten als die längeren.

Es gibt auch fiktionale Ganzschriften mit differenzierten Texten. Die folgende Abbildung zeigt ein Beispiel aus meinem eigenen Kinderkrimi: Wer klaut hier Masken?

S. 23 aus Scheerer-Neumann, G. (2020). Wer klaut hier Masken? Spannende Leseförderung, viele Rätsel. Oldenburg: isb.

Seite 23 aus Scheerer-Neumann, G. (2020). Wer klaut hier Masken? Spannende Leseförderung, viele Rätsel. Oldenburg: isb.


Die Lesestrategie „Klären“

Die Textentlastung ist bei noch eingeschränkten Deutschkenntnissen eine Vorbedingung, damit das Leseverständnis überhaupt gelingen kann. Zur Förderung des Leseverstehens sollten zudem altersentsprechende Lesestrategien vermittelt und eingeübt werden. Im Blogbeitrag IV habe ich einige basale Lesestrategien erläutert, die das Verstehen eines Sachtextes erleichtern: Die Aktivierung von Vorwissen, Fragen an einen Text stellen und nach der Lektüre beantworten und den Text bzw. einzelne Absätze zusammenfassen.

Für mehrsprachige Lernende besonders wichtig ist sowohl bei der Lektüre vereinfachter Texte, insbesondere aber bei Klassentexten, die Lesestrategie des Klärens, d.h. die Aufklärung der Bedeutung noch unbekannter Wörter und Satzkonstruktionen. Neben der fehlenden Vertrautheit mit textrelevanten Inhaltswörtern ist bei mehrsprachigen Schüler:innen die fehlende Kenntnis der Bedeutung mancher Konjunktionen ein häufiger Stolperstein.


Vermitteln und Einüben des „Klärens“

Zur Einübung dieser Strategie kann das Klären zunächst im Frontalunterricht von der Lehrkraft auf Fragen der Schüler:innen übernommen werden; hilfreich ist auch der Austausch zwischen den Lernenden in Lesetandems oder beim kooperativen oder reziproken Lesen in kleinen Gruppen. Schüler:innen mit gleicher Sprachkonstellation können ggf. noch unbekannte Wortbedeutungen auch über einen Austausch in ihrer Erstsprache erkennen.

Letztlich soll das Klären zu einer selbstständig angewandten Lesestrategie werden, d.h. die Schüler:innen sollen selbst die Stellen in einem Text erkennen, an denen sie lexikalische oder syntaktische Verständnisschwierigkeiten haben und diese mithilfe eines Wörterbuchs oder Nachfragen bei der Lehrkraft oder bei Klassenkamerad:innen klären.


Schlüsselwörter

Das Klären ist für die Schülergruppe leichter, wenn die Lehrkraft die Schlüsselwörter in einem Text schon vorab kennzeichnet. Eine intensive Beschäftigung mit zu vielen einzelnen Wortbedeutungen könnte sonst bewirken, dass der „rote Faden“ oder das Interesse am Text verloren gehen. Neu eingeführte Schlüsselwörter sollten von den Schüler:innen möglichst mehrfach aktiv genutzt werden, z. B. beim Schreiben einer Zusammenfassung, aber auch in anderen Kontexten, damit sie letztlich im Wortschatz verankert zu werden. Praktische Hinweise zum kooperativen und reziproken Lesen in mehrsprachigen Gruppen und weitere interessante Vorschläge finden sich in z. B. in BISS 2020 und KOALA 2021.


Und immer wieder: Adaptiv vorgehen!

Natürlich muss Leseförderung – wie jede andere Fördermaßnahme – immer auch adaptiv sein: Die notwendige Anpassung der didaktischen Maßnahmen an den jeweiligen Lernstand erfordert neben einer standardisierten Lese- und Sprachstandserhebung kontinuierliche Beobachtungen, die ggf. zu einer Änderung der Lernziele führen können.

Gerheid Scheerer-Neumann

Potsdamer Lesetest: Ganz einfach den Lernstand im Lesen feststellen

Testhefte des PLT – Potsdamer Lesetests:

Materialien für Lehrkräfte zum PLT:

Zur Testdurchführung werden die Anleitungen aus den Hinweisheften benötigt:

Das Handbuch für Lehrende enthält Hintergrundinformationen und wichtige Hinweise für die Förderung:

Literaturhinweise

Bezirksregierung Köln (2021). KOALA - Koordiniertes mehrsprachiges Lernen. Handreichung zum Planen und Vorbereiten.
BISS Trägerkonsortium (Hrsg.) (2020). Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen. Kooperativ und mehrsprachig Texte verstehen. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. DOI: 10.3278/6004772w
Bredel, U. & Maaß, C. (2018). Leichte Sprache. Grundlagen, Prinzipien und Regeln. Der Deutschunterricht, 5, 15-25.
Röber, Ch. (2015). Das Konzept „Rechtschreiben durch Rechtlesen“. In E. Brinkmann (Hrsg.), Rechtschreiben in der Diskussion (S. 90-99). Frankfurt/M: Grundschulverband.
Scheerer-Neumann, G. (1994). Texte für langsam lesenlernende Kinder. Überlegungen und Tips zum Selberschreiben. Grundschulunterricht, 41, 13-17.
Scheerer-Neumann, G. (2020). Wer klaut hier Masken? Spannende Leseförderung, viele Rätsel. Oldenburg: isb-Fachverlag.
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