17. Dezember 2021
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Authentisches Lesen und spezifische Leseübungen: Ein starkes Team!

„Und bald les´ ich meine Bücher selber!“

Auf die Erfüllung dieses Wunsches müssen manche Erstklässler:innen lange warten – manchmal bis ins dritte oder vierte Schuljahr. Gerade dann sollten wir alles tun, um ihre anfängliche Lesemotivation aufrecht zu erhalten; ein Abgleiten in „Das lern´ ich nie!“ oder gar die Rationalisierung zu „Bücher interessieren mich sowieso nicht!“, müssen wir – soweit irgend möglich – verhindern.

Damit Leseerfahrungen auch für langsam lesen lernende Kinder erfolgreich und motivierend sind, muss für sie passendes Lesematerial ausgewählt werden, d.h. Texte aus ihren Interessengebieten, die aber relativ leicht lesbar sind (z. B. interessenbezogene Auswahl aus den Leseheften der Regenbogenlesekisten I und II, vpm Klett Verlag). Bei Kinderbüchern, die ein Lesealter angeben, empfiehlt es sich, eine deutlich niedrigere Alters- bzw. Klassenstufe wählen. Allerdings sind selbst Bücher für „Leseanfänger“ oder „Erstleser“ nicht immer sehr leicht zu lesen (vgl. Brinkmann & Brügelmann 2021). Deshalb habe ich schon oft zu Suchrätseln und zu einzelnen Seiten in Bilder- oder Kinderbüchern leichter lesbare Texte geschrieben und damit die Originaltexte überklebt. So wurde z. B. zu einem Suchbild aus: „Kannst du den Wal entdecken?“ „Wo ist der Wal?“ Zudem können auch Eintragungen über die freie Lektüre und die Lesezeiten in einen Lesepass motivierend wirken.

Lesekiste Seite 2 und 3

Ausschnitt Regenbogen-Lesekiste II, Lesetufe 7: Seite 2 und 3


Spezifische Leseübungen

Aber: Bei langsam lesen lernenden Schüler:innen reicht freies und authentisches Lesen nur in den seltensten Fällen aus, um einen Rückstand aufzuholen. Notwendig sind zusätzliche spezifische Leseübungen, die im Leselernprozess genau an den Stellen ansetzen, die für ein Kind problematisch sind und die weitere Leseentwicklung behindern. Der Potsdamer Lesetest (PLT) enthält deshalb mehrere Testteile, die darüber differenziert Auskunft geben können: den Untertest zum Worterkennen (WE), den Untertest zum Leseverstehen (LV) und Verfahren, die vor allem basale Leseprobleme noch detaillierter erfassen (Vertiefende Diagnostik).

Bei den spezifischen Leseübungen liegt die Betonung neben spezifisch ebenso auf Übung: Die Konzentration auf den Inhalt eines Textes kann nur gelingen, wenn „hierarchieniedrige“ Teilprozesse des Lesens, wie das Worterkennen, weitgehend mühelos – oder sogar automatisiert – ablaufen. Es gibt Schüler:innen, die diese „Leichtigkeit“ allein durch freies Lesen erreichen, bei den leistungsschwächeren Leser:innen, sollte man sich nicht darauf verlassen, sondern entsprechende Übungen einplanen.


Fördern des Worterkennens

Zu den „Stolpersteinen“ beim Erwerb des Worterkennens (Dekodierens) gehören:

  • die unvollständige Kenntnis von Graphem-Phonem-Korrespondenzen oder entsprechende Unsicherheiten
  • Probleme mit der Phonemsynthese, vor allem bei Konsonantenhäufungen am Anfangsrand der Silben
  • Schwierigkeiten beim Lesen „langer“ – vor allem 3- und mehrsilbiger und morphologisch komplexer Wörter – auch noch im 3. oder 4. Schuljahr

In Kapitel 7 im Handbuch zum PLT (in Vorbereitung) stellen wir zu allen drei Bereichen (wie auch zur Lesegeschwindigkeit, zur Leseflüssigkeit und zum Leseverständnis) spezifische Übungen vor; hier möchte ich auf das zweitgenannte Problem – die Schwierigkeiten bei der Synthese von Konsonantenhäufungen – eingehen. Zu Beginn des Lesenlernens sind Wörter wie strampeln oder Angst für fast alle Schüler:innen schwierig zu erlesen, was bei der Auswahl der ersten Wörter für Fibeln in der Regel auch berücksichtigt wird. Für manche Lernende bleiben die anfänglichen Probleme bei der Synthese über einen längeren Zeitraum bestehen. Im Gegensatz zu den leistungsstärkeren Schüler:innen zeigen sie oft nur einen geringen Transfer auf neue Wörter.

D.h. die beim Erlesen der Wörter tragen und Treppe geübten Konsonantenhäufungen tr/Tr sind nicht unbedingt bei Traube und trinken verfügbar und transferieren schon gar nicht auf ähnliche Konsonantenverbindungen (stimmloser Verschlusslaut + /r/) wie in krank oder Preis. Werden die G-Ph-K einzeln beherrscht, hilft hier Übung im Sinne eines systematischen und wiederholten Erlesens von Silben mit jeweils einer ausgewählten Konsonantenhäufung am Anfangsrand, z. B. tri, tro, tra, tru, trei trau und von entsprechenden Wörtern (vgl. Kieler Leseaufbau 2011), über die möglicherweise sogar häufig auftretende Bigramme wie br, fr, tr usw. als Einheiten im Gedächtnis verankert werden.


Fördern der Lesegeschwindigkeit

Übungen zur Synthese erhöhen nicht nur die Lesegenauigkeit, sondern auch die Lesegeschwindigkeit, ebenso wie Übungen zur effektiven Segmentierung längerer Wörter und zur Nutzung orthographischer Strukturen (z. B. Ritter & Scheerer-Neumann 2009). Daneben kann die Lesegeschwindigkeit auch direkt gefördert werden, z. B. durch wiederholtes Lesen häufiger Wörter (u.a. Funktionswörter), die so zu „Sichtwörtern“ werden können. Weiterhin haben sich zur Beschleunigung des Lesevorgangs „Blitzwörterübungen“ bewährt, bei denen Wörter und Pseudowörter nur kurzzeitig präsentiert werden (auch in Ritter & Scheerer-Neumann, s. ebenso „Wörter-Blitz“ von Tacke o. J.). Allerdings ist bei Übungen zur Lesegeschwindigkeit stets auch auf die Lesegenauigkeit zu achten: Leseschwache Lernende tendieren gerade bei kürzeren Wörtern oft zum Raten (s. Fallbeispiel Katja im PLT-Blogbeitrag III).

Die Lesegeschwindigkeit steigt auch nach dem Erreichen basaler Lesekompetenzen weiter an (auch über die Grundschule hinaus) und sollte deshalb vor allem bei langsamer lesen lernenden Schüler:innen weiterhin im Blick bleiben. Erfolgreiche Verfahren zur Förderung der Leseflüssigkeit, die im folgenden Abschnitt vorgestellt werden, haben in der Regel auch positive Auswirkungen auf die Lesegeschwindigkeit.


Fördern der Leseflüssigkeit

Auch wenn die Probleme, die sich aus den oben beschriebenen „Stolpersteinen“ ergeben, weitgehend beseitigt sind und eine akzeptable Lesegeschwindigkeit erreicht wurde, bleiben Aufgaben für die Leseförderung: Die für das Textverständnis notwendige Leseflüssigkeit verlangt nicht nur ein genaues und schnelles Erkennen der einzelnen Wörter, sondern ein syntaktisches und semantisches Verständnis des ganzen Satzes, das beim Lesen eine passende Gruppierung der Wörter und eine angemessene Intonation ermöglicht. Hier haben sich sogenannte „Lautlese-Verfahren“ bewährt, bei denen eine Person als Modell einen Text vorliest, die Lernenden zunächst halblaut mitlesen und danach kooperativ mit anderen Lernenden abwechselnd und/oder gemeinsam laut lesen und sich über den Text austauschen (Lauer-Schmaltz et al., Gailberger 2011, Kutzelmann et al. 2018).


Fördern des Leseverständnisses

Das Leseverständnis ist in allen Phasen der Leseentwicklung unverzichtbar und ein Motor für die weitere Leseentwicklung. Die Lernenden sollten deshalb von Anfang an dazu angehalten werden, zu überprüfen, ob das Gelesene überhaupt einen Sinn ergibt. Leseschwache Schüler:innen neigen oft dazu, über semantische und syntaktische Inkonsistenzen in dem von ihnen Gelesenen „hinwegzugehen“, anstatt zu versuchen, sie in einem weiteren Leseversuch aufzulösen (vgl. Scheerer-Neumann 2018, Kap. 10.3). In solchen Fällen sollte man versuchen, die wiederholte Frage „Habe ich das auch verstanden?“ in die Leseroutine eines Kindes zu integrieren.

Allerdings wäre in solchen Fällen auch zu überprüfen, ob nicht vielleicht doch basale Leseprobleme eine Schülerin oder einen Schüler daran hindern, die syntaktische und die inhaltliche Ebene eines Textes zu fokussieren.

Das Leseverständnis stellt die Lernenden vor neue Herausforderungen, wenn es in den höheren Klassen der Grundschule zunehmend darum geht, mit und aus Texten zu lernen: Hilfreich ist hier der Einsatz von Lesestrategien – für ein vertieftes Verständnis beim Lesen eines Sachtexts z. B.:

  • Aufgrund eines Titels oder einer Überschrift überlegen: Was weiß ich schon über das Thema?
  • Vor oder nach dem Lesen Fragen an den Text stellen, die nach dem Lesen beantwortet und ggf. ergänzt werden (Fragen können zunächst auch von der Lehrkraft vorgegeben werden)
  • Nach dem Lesen Wichtiges verbal zusammenfassen oder wichtige Informationen in einem Schaubild oder als Tabelle darstellen

Die Lesestrategien werden am besten explizit von der Lehrkraft eingeführt; dabei demonstriert sie als Modell die einzelnen Schritte zur Auswahl einer Strategie und ihrer Anwendung. Bei der nachfolgenden Einübung der Lesestrategie durch die Lernenden helfen zunächst Vorstrukturierungen als „Gerüst“, die später durch mehr Eigenständigkeit abgelöst werden (z. B. Lesen. Das Training von Kruse et al. 2015a, 2015b), aber auch kooperative Lernformen (Stichwort: Reziprokes Lesen bzw. Lernen), bei denen Schüler:innen in kleinen Gruppen abwechselnd den Einsatz unterschiedlicher Lesestrategien demonstrieren und ausprobieren (vgl. Munser-Kirschhock, 2012).

Die verschiedenen genannten Förderschwerpunkte (basale Lesefertigkeiten, Lesegeschwindigkeit, Leseflüssigkeit, Leseverständnis) sollten im Unterricht „dachziegelartig“ ineinandergreifen, d. h. sie sind weder ganz sequentiell noch ganz parallel einzusetzen: Während das erste Erlesen fraglos  am Anfang stehen muss, ist auch schon beim wiederholten Lesen eines leseleichten Textes auf die Phrasierung und Intonation zu achten und, wie schon erwähnt, ist auch die selbständige Überprüfung der „Stimmigkeit“ des Gelesenen von Anfang an in die Leseroutine zu integrieren.

Und (auf die Gefahr, mich zu wiederholen 😉): Spezifische Leseübungen sollten immer mit freien, authentischen und interessengeleiteten Lesesituationen kombiniert werden, auch gemeinsam mit Eltern, Lesepat:innen oder Klassenkamerad:innen, die zur Entlastung zunächst längere Passagen vorlesen können. Gemeinsames Lesen ist besonders wichtig für mehrsprachig aufwachsende Kinder. Deren besondere Situation beim Lesenlernen, die Bewertung ihrer Testleistungen im PLT und spezifische Fördermöglichkeiten werden Thema meines nächsten Blogbeitrags sein.

Gerheid Scheerer-Neumann


Literatur

Brinkmann, E./ Brügelmann, H. (2021): Warum scheitern Erstleser:innen oft an „Erstlesebüchern“? In: ESELSOHR, H. 7, 18-19.
Dummer-Smoch, L. & Hackethal, R. (2016). Kieler Leseaufbau. Handbuch. Kiel: Veris Verlag.
Gailberger, S. (2011): Lesen durch Hören – Lüneburger Modell: Beltz.
Kruse, G., Rickli, U., Riss, M. & Sommer, T. (2015a): Lesen. Das Training. Klasse 2/3. Stuttgart: Klett/vpm.
Kruse, G., Rickli, U., Riss, M. & Sommer, T. (2015b): Lesen. Das Training. Klasse 4. Stuttgart: Klett/vpm.
Kutzelmann, S., Schaller-Poffet, C. & Baeriswyl, M. (2018): Mono- und Stereolesen: Ein Lautleseverfahren für das regelmäßige Lesetraining in allen Fächern der Primarstufe. In S. Kutzelmann & C. Rosebrock (Hrsg.), Lautleseverfahren in der Praxis (S. 84-97). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Munser-Kiefer, M. & Kirschhock, E.-M. (2012): Lesestrategien im Leseteam trainieren. Lehrermanual und Unterrichtsmaterialien. Donauwörth: Auer.
Ritter, Ch. & Scheerer-Neumann, G. (2009). PotsBlitz. Das Potsdamer Lesetraining. Köln: Prolog.
Scheerer-Neumann, G. (2018). Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie. Grundlagen, Diagnostik und Förderung (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Tacke, G. (o. J.-a): Buchstabenblitz. Buchstaben dauerhaft einprägen und blitzschnell erkennen. Salzburg: Lesikus.
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