20. Oktober 2021
23

Die Leseanalyse

Bei älteren Schülerinnen und Schülern sowie bei Erwachsenen muss die Leseforschung „Tricks“ anwenden, um Leseprozessen auf die Spur zu kommen. So nutzt man z. B. Pseudowörter, deren Aussprache phonemisch mit einem existierenden Wort übereinstimmen, (z. B. ‘Fux’ zu ‘Fuchs’ oder ‘Tahl’ zu ‘Tal’), um herauszufinden, ob Leserinnen und Leser die Grapheme mancher Wörter unmittelbar wiedererkennen. Ist dies der Fall, sollten sie ‘Fuchs’ erheblich schneller lesen können als ‘Fux’ und ‘Tal’ schneller als ‘Tahl’. In der Anfangszeit des Lesenlernens, bei langsam lesen lernenden Kindern entsprechend länger, lassen sich Hinweise auf Leseprozesse und Leseprobleme dagegen oft unmittelbar aus dem Lesevortrag entnehmen – man kann sie sozusagen ganz einfach „hören“!

Einblicke in den Leseprozess auf der Wortebene, die man durch die Leseanalyse erhalten kann, habe ich schon in meinem letzten Blogbeitrag zur PLT Wörtertreppe aufgezeigt. Heute geht es primär um Lesestrategien auf der Satz- und Textebene. So zeigt die zeitliche Gruppierung der Wörter und die Prosodie des Gelesenen, ob Satzzeichen berücksichtigt oder Nominalphrasen als solche erkannt wurden. Wortersetzungen, die in den Satzrahmen passen, weisen auf ein Verständnis des Gelesenen hin, ebenso Fehlerkorrekturen, die semantisch oder syntaktisch Diskrepantes wieder stimmig machen.  Und ganz allgemein zeigen Korrekturen, dass die Lesenden über die Lesestrategie des Überprüfens verfügen. Im Download zu diesem Blog habe ich mögliche Auswertungskriterien zusammengestellt, unter denen auch individuell ausgewählt werden kann. So muss man im 3. Schuljahr Fehler bei der Graphem-Phonem-Zuordnung nur in Einzelfällen fokussieren.

Lesen

Transkript zum Lesevortrag (Leseprotokoll)

Die gesprochene Sprache ist flüchtig; durch Audioaufnahmen können kritische Stellen wiederholt abgehört werden; vor allem für die Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen bieten sich zusätzlich Transkripte des Lesevortrags an, d.h. seine Verschriftlichung. Dabei hat sich eine „literarische Umschrift“ bewährt, die sich an der deutschen Orthografie orientiert, aber zusätzlich weitere Zeichen, u.a. aus der Lautschrift, nutzt. Das folgende Beispiel, das im Hinweisheft 3/4 und im Handbuch zum PLT ausführlicher dargestellt wird, gibt einen guten Einblick in das Verfahren.


Analyse eines Leseprotokolls aus dem 3. Schuljahr: Fallbeispiel Katja

Zum Zeitpunkt der Aufnahme hat gerade das zweite Halbjahr von Katjas (9;2) drittem Schuljahr begonnen. Ihre Deutschlehrerin berichtet, dass Katja im ersten Schuljahr eine der besten Leserinnen ihrer Klasse war, inzwischen aber eher zu den Schwächeren gehöre; vor allem mache sie viele Fehler. Dabei bemühe sie sich, „schön“ und ausdruckvoll vorzulesen.

Für die Leseanalyse las Katja das Leseheft Udo ist gemein aus der Regenbogen-Lesekiste I vor, das – verglichen mit den Anforderungen eines Textes aus einem Lesebuch für das 3. Schuljahr – relativ leicht zu lesen ist. Die folgende Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus dem Transkript, der Katjas Leseprobleme recht gut verdeutlicht. Unter dem Transkript sind die entsprechenden Seiten aus dem Leseheft zu sehen.

Erläuterung der Zeichen:

  • +  sofort korrekt gelesen
  • :   Dehnung eines Vokals oder eines Konsonanten
  • .   kurze Pause
  • [ ] Hinweise der Untersucherin

1

An          einem    Montag    vor      der    großen    Pause

am an          +        morgen     v vor    +      gro:ßen       +

2

sagte      die    Lehrerin:

s:ag.te      +       lehrerin    (umgangssprachlich ausgesprochen: [le:a.rin]

3

„Von          Nikos               Fahrrad     ist     am     Freitag

vo: vor      ni:k n:ikos           +              +      ein     f fr:ei.tag

4

die   Luftpumpe                 gestohlen      worden.

+      le:a   l:u:ft.pumpe     ge:stohlen          +

5

Wenn   jemand  

+        jetzt  je:    je:nm  je:ne:

[ja, je: ist richtig und dann kommt m]

ah! je:m:and

6

etwas      darüber                             weiß,  

et.was      über  über   [darüber]              +

7

soll   er        es                           mir    sagen.   

+      +         e:     soll er es          +         +         (prosodisch gut)

8

Niemand                                                               meldete                        sich.                    

n nein! n nma:n                                 niemand   ma:l m: me:l:det          +

[ist ein [i:] nie..]

Textausschnitt und Illustration zum obigen Leseprotokoll. Aus: Scheerer-Neumann, G. (2010): Udo ist gemein. Leseheft aus der Regenbogen-Lesekiste I, Ernst Klett Verlag.

Lesekiste

Stand der Leseentwicklung, Lesefehler, Korrekturen und Graphem-Phonem-Korrespondenzen

Wie von der Lehrerin in anderen Kontexten beobachtet, versuchte Katja den Text sehr ausdruckvoll vorzulesen, auch wenn der Lesefluss durch ihre Probleme beim Dekodieren mancher Wörter immer wieder unterbrochen wurde. Etwa die Hälfte der Wörter sprach sie sofort korrekt in Standardlautung aus, bei anderen zeigen verlängerte Vokale oder Konsonanten Prozesse des offenen Erlesens, im 3. Schuljahr ein Hinweis auf eine verzögerte Leseentwicklung.

Mit fast 25 Prozent war die Zahl der Verlesungen (fast durchweg Wortersetzungen) relativ hoch. Allerdings korrigierte Katja in mehr als der Hälfte der Fälle ihre Lesefehler spontan selbst, oft schon nach der ersten Silbe des falschen Wortes. Ein Teil der Verlesungen kam also durch ein vorschnelles, impulsives Leseverhalten zustande. In diese Kategorie fallen die folgenden Fehler: ‘Le:a’ anstelle von ‘Luftpumpe’ in Zeile 4; ‘jetzt’ anstelle von ‘jemand’ in Zeile 5; ‘über’ anstelle von ‘darüber’; in Zeile 6; ‘nein’ anstelle von ‘niemand’ und ‘ma:l’ anstelle von ‘meldete’ in Zeile 8.

Von den Inhaltswörtern blieb nur ‘morgen’ anstelle von ‘Montag’ in Zeile 1 unkorrigiert. Morgen passt semantisch und syntaktisch perfekt in den Satz, ist vielleicht sogar wahrscheinlicher als Montag. Ob die Korrekturen bei den anderen Wörtern durch syntaktische und/oder semantische Unstimmigkeiten, die Katja bemerkte, ausgelöst wurden oder ob der Leseprozess noch parallel zum vorschnellen Aussprechen des fehlerhaften Wortes weiterlief, muss offenbleiben – vermutlich trifft beides anteilig zu.

Dass Katja sich am Kontext – auch dem bildlichen – orientierte, zeigt das schnelle Erfassen des Wortes Lehrerin in Zeile 2: In der Illustration nimmt die Lehrerin einen prominenten Platz ein.

Auffallend sind Katjas Verlesungen bei „kleinen“ Wörtern (Artikel und Funktionswörter), die sie nur teilweise korrigiert (am, an zu ‘An’ in Zeile 1, vo: vor zu ‘von’ und ein zu ‘am’ in Zeile 2). Lesetechnisch sollten diese Wörter keine großen Probleme bieten, tatsächlich sind aber solche Fehler bei langsam lesenlernenden Schülerinnen und Schülern nicht selten. Sie sind vermutlich auf den Versuch zurückzuführen, sehr kurze Wörter direkt zu erkennen.

Allerdings war bei Katjas Verlesungen von n-m, n-r und a-e auch zu überlegen, ob ein Problem im Bereich der Sehschärfe vorliegen könnte. Und wirklich gab Katja auf Nachfragen an, eine Brille zu besitzen, die sie aber nicht gerne trug und auch während des Vorlesens nicht getragen hatte. Eine nachfogende augenärztliche Überprüfung ergab, dass die Gläser ohnedies nicht mehr optimal kompensierten. Es ist also nicht auszuschließen, dass Katjas Lesefehler teilweise im Zusammenhang mit einer unzureichenden Sehschärfe standen.


Leseförderung

Mit einer spezifischen Leseförderung wurde erst begonnen, nachdem Katja ihre neue Brille erhalten hatte – die korrigierte Sehschärfe war ein guter Anlass, auch an einer Änderung ihrer Lesestrategien zu arbeiten. Anhand des obigen Leseprotokolls (vor allem Zeilen 5 und 8) erkannte Katja selbst, wie schwierig es ihr manchmal fiel, von einem Lesefehler wieder „loszukommen“ und dass „langsam und gleich richtig“ die bessere Strategie war. Die Förderlehrerin betonte, dass es zwar gut sei, mit Ausdruck vorzulesen, aber bei einen neuem Text doch recht schwierig und man deshalb zunächst auf Genauigkeit achten sollte.

Gleichzeitig wurden mit Katja Übungen auf der Wortebene durchgeführt; u.a. waren Wortlisten mit einzelnen Funktionswörtern (vor, von, zu, zum, zur usw.) mit einem hohen Genauigkeitsanspruch zu lesen. Dies wurde durch Übungen mit längeren Wörtern ergänzt, wobei sich bei Katja noch Unsicherheiten bei der Positionsabhängigkeit der Grapheme ‘st’, ‘sp’zeigten. Der Förderunterricht war recht erfolgreich, Katja machte deutlich weniger Fehler, las zwar langsamer, aber kaum weniger ausdrucksvoll.

Vor allem in Verbindung mit einem Transkript kann die Leseanalyse viele Leseprobleme (ganz sicher nicht alle!) sichtbar machen; sie ist zudem oft so spannend wie eine Detektivgeschichte – ich habe nicht wenige Stunden gemeinsam mit Lehrerinnen verbracht, in denen wir mit heißen Köpfen den Leseschwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern auf der Spur waren – und oft recht erfolgreich!

Im folgenden Blogbeitrag wird es um spezifische Fördermaßnahmen gehen, die aus Ergebnissen der Leseanalyse abgeleitet werden können.

Gerheid Scheerer-Neumann


Dazu passt:

Danke!
23 Personen haben sich für diesen Beitrag bedankt.
Klicke aufs Herz und sag Danke.