Welche Eigenschaften sollte ein Lesetest für die Schule haben? Sollte er die individuellen Leseleistungen standardisiert und quantitativ möglichst genau ermitteln und mit einer sozialen Norm vergleichen – oder sollte er den Stand der Leseentwicklung eher qualitativ erfassen und individuelle Leseprobleme differenziert analysieren?
Aus unserer Sicht sollte ein Lesetest für die Grundschule beides leisten: In meinem Blogbeitrag vom 2. August 2021 habe ich den Potsdamer Lesetest (PLT) mit dem Untertest zum Worterkennen (WE) und dem Untertest zum Leseverstehen (LV) vorgestellt, die beide primär die erste Aufgabe erfüllen. In diesem Beitrag beschreibe ich eines der beiden qualitativen Verfahren des PLT, die wir unter dem Begriff „Vertiefende Diagnostik“ zusammengefasst haben. Sie zeigen, wie man bei Schülerinnen und Schülern mit niedrigen Leseleistungen und/oder hohen Fehlerquotienten die „kritischen Stellen“ im Leseprozess aufdecken kann, um davon differenzierte Fördermaßnahmen abzuleiten.
Die „Vertiefende Diagnostik“ im PLT: Wegweiser für eine gezielte Leseförderung
Die individuellen Ergebnisse, die Schülerinnen und Schüler in den Untertests des Lesetests PLT erreichen, ermöglichen den Vergleich ihrer Lesekompetenz mit einer Normstichprobe der gleichen Schulstufe. Dies ist eine wichtige Funktion des Tests, vor allem in besonders leistungsstarken oder leistungsschwachen Klassen, die einen etwas abweichenden Bezugsrahmen vorgeben. Aber ein Lesetest sollte noch mehr können: Für Schülerinnen und Schüler mit unterdurchschnittlichen Leseleistungen sollte es möglich sein, von den Testergebnissen differenzierte didaktische Hinweise abzuleiten. Auch dieser Aufgabe stellt sich der PLT.
Die im vorangegangenen Blogbeitrag beschriebenen Untertests des PLT, die im ökonomischen Gruppenverfahren durchgeführt werden können, bieten durch die getrennte Ermittlung der Leistungen im Worterkennen (Untertest WE) und im Leseverstehen (Untertest LV) bereits Ansatzpunkte für die Förderung:
Bei auffallend niedrigen Werten im Worterkennen sollten vor allem basale Lesefertigkeiten gefördert werden. Liegen die Schwächen eher im Bereich des Textverstehens, wäre die Vermittlung, Einübung und Anwendung von Lesestrategien angezeigt. Aber: Dies sind nur Ansatzpunkte; für die Ableitung konkreter Fördermaßnahmen müssen die Probleme – vor allem die der sehr leseschwachen Schülerinnen und Schüler – genauer analysiert werden. Unabhängig vom Leistungsniveau gilt dies auch bei auffallend hohen Fehlerquotienten, deren Ursache geklärt werden muss, bevor Abhilfe geschaffen werden kann: Macht Moritz deshalb so viele Fehler, weil er auch noch im zweiten Schuljahr grundlegende Probleme mit der Synthese hat? Oder liest er für sein Kompetenzniveau zu schnell und macht deshalb so viele Fehler? Hat Murat eher Sprach- als Leseprobleme? Genau hier setzen die Verfahren der „Vertiefenden Diagnostik“ des PLT an.
Diagnostik bei noch unzureichenden Sprachkenntnissen im Deutschen
Um gleich am letzten Beispiel anzuknüpfen: Das Verständnis eines Textes erfordert die Kenntnis der Sprache, in der er geschrieben ist – das ist eine Binsenweisheit und insofern lassen sich die Testergebnisse bei Schülerinnen und Schülern mit Rückständen im Deutschen nicht ohne Weiteres interpretieren. Ihre Fähigkeit zum basalen Lesen, zum Dekodieren, kann aber über die Aufgabe Wörtertreppe aus der Vertiefenden Diagnostik des PLT überprüft werden (s.u.), in der auch Pseudowörter (z. B. brenken) zu lesen sind, die zwar deutsche Sprachstrukturen berücksichtigen, aber keine Wortschatzkenntnisse voraussetzen.
Viele der mehrsprachig aufwachsenden Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund verfügen über recht gute Deutschkenntnisse, haben aber Probleme mit seltenen Wörtern oder komplexen grammatischen Strukturen. Um sich hier ein genaueres Bild zu verschaffen, könnt ihr Tests zur Sprachstandserhebung einsetzen. In den Hinweisheften 1/2 und 3/4 des PLT geben wir Beispiele für entsprechende Verfahren, die teilweise auch im Gruppenformat durchgeführt werden können.
Analyse der Probleme beim Worterkennen: Die PLT Wörtertreppe
Die PLT Wörtertreppe, die in zwei leicht unterschiedlichen Versionen für das 1. und 2. (61 Wörter 42 Pseudowörter). bzw. für das 3. und 4. (76 Wörter, 42 Pseudowörter) Schuljahr vorliegt, hilft bei der Analyse von Schwierigkeiten beim Worterkennen. Eine Liste mit Wörtern und Pseudowörtern mit ansteigender Länge und Komplexität, soll von den Schülerinnen und Schülern laut vorgelesen werden – am besten in einer ruhigen Einzelsituation, in der ihr das Kind auch genau beobachten könnt. Wir wissen, dass Einzelsituationen im Schulalltag nicht so leicht herzustellen sind – aber um Leseprobleme, vor allem in den unteren Grundschulklassen genauer zu verstehen, sind sie kaum zu ersetzen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man in der Klasse einzelne Kinder immer nur mit „geteilter Aufmerksamkeit“ beobachten kann; zudem ist für leseschwache Schülerinnen und Schüler das Vorlesen in der Gruppe zumeist mit sozialen Ängsten verbunden.
Für die Durchführung der Wörtertreppe sind einschließlich eines einführenden Gesprächs zum „Warmwerden“ maximal 15 Minuten zu veranschlagen.
Die Schwierigkeit der Wörter und Pseudowörter der Wörtertreppe variiert vor allem auf zwei Dimensionen: Die Anzahl der Silben erhöht sich von einer auf maximal fünf; Unterschiede in der phonemischen Komplexität werden durch die Wahl von Wörtern bzw. Pseudowörtern mit und ohne Konsonantenhäufungen realisiert (z. B. Regen vs. Bruder). Diese beiden Dimensionen wurden gewählt, weil die Synthese bei Konsonantenhäufungen und das Lesen langer Wörter bekannte „Stolpersteine“ beim Lesenlernen sind, die schwächere Schülerinnen und Schüler teilweise noch bis ins 3. und 4. Schuljahr begleiten. Die folgende Tabelle zeigt beispielhaft einige Wörter und Pseudowörter mit ansteigender Silbenzahl, ohne und mit Konsonantenhäufungen (KH- und KH+).
Wörter | Pseudowörter | |||
KH- | KH+ | KH- | KH+ | |
1-silbig | rot | Prinz | Lat | Kraum |
2-silbig | Kilo | Bruder | Suben | brenken |
3-silbig | Minute | Praline | Ronite | — |
Die Wörtertreppe enthält zudem Wörter und Pseudowörter mit Vokallängenmarkierungen (z. B. Gruppe als Wort und Foss als Pseudowort) und – für die Klassen 3 und 4 – morphemisch komplexe Wörter (z. B. Trinkflasche).
Wir empfehlen eine Audioaufzeichnung zum Lesevortrag, um Stellen, an denen sich Schwierigkeiten zeigen (z. B. zu Bruder: b rrr berr beru: bruder), mehrfach abhören und so besser analysieren zu können. Die Auswertung erfolgt zunächst nach drei Kategorien:
- sofort korrekt gelesen
- synthetisierend oder mit Korrekturen gelesen
- falsch gelesen
In einem Auswertungsbogen werden die Wörter und Pseudowörter entsprechend der drei beschriebenen Auswertungskategorien unterschiedlich farbig markiert. Oft zeigt sich dann schon ein Muster, zum Beispiel liest Rafael zu Beginn seines 3. Schuljahrs die einsilbigen Wörter sofort korrekt, die Zweisilber meistens auch, bei den Dreisilbern macht er häufig Fehler. Die Analyse seines Leseverhaltens zeigt, dass er manchmal den Wortanfang korrekt erliest und dann rät, z. B. „Traktor“ für Trampolin. Bei anderen Wörtern und Pseudowörtern wird deutlich, dass es ihm oft nicht gelingt, in Silben zu segmentieren.
So liest er beim Wort verkaufen in einem ersten Schritt fe:rk- und in einem 2. Schritt -aufe:n und findet keine Wortbedeutung. Aus solchen Beobachtungen ergeben sich unmittelbar Hinweise auf sinnvolle Übungen; im Fall von Rafael bieten sich zum einen Übungen mit Wörtern mit der Vorsilbe ver- (ggf. auch vor-) an, zum anderen allgemeine Übungen zur Segmentierung von mehrsilbigen Wörtern, die mit der Vorgabe von optisch in Silben gegliederten Wörtern begonnen werden könnten.
Natürlich sind spezifische Übungen nicht schon aufgrund einzelner Beobachtungen angezeigt, sondern erst dann, wenn eine Auffälligkeit mehrfach sichtbar wird. Da der Umfang der Wörtertreppe beschränkt sein muss, kann es für euch notwendig werden, bei bestimmten Vermutungen selbst weiteres Wortmaterial herauszusuchen oder zu erstellen, bei Rafael z. B. entsprechend dreisilbige Wörter. Aber Wörter mit den relevanten silbischen Strukturen kommen auch im fließenden Text vor und insofern ist es auch hilfreich, den Lesevortrag beim Vorlesen z. B. von Geschichten, an denen Schülerinnen und Schüler interessiert sind, aufzuzeichnen und zu analysieren. Dies ist auch insofern eine gute Idee, weil man bei der Analyse des Lesevortrags beim Textlesen neben den erwähnten auch weitere wichtige Einblicke in das Leseverhalten erhält. So können z. B. Wortersetzungen Hinweise auf die Nutzung des semantischen und/oder syntaktischen Kontexts geben, ebenso ihre Korrektur, die gleichzeitig verdeutlicht, dass das Kind das Gelesene überprüft, eine der wichtigsten Lesestrategien.
Mein nächster Blogbeitrag wird sich anhand eines Fallbeispiels ausführlicher mit der Analyse des Lesevortrags, der Leseanalyse, befassen. Und ich kann versprechen: Es wird spannend!
Gerheid Scheerer-Neumann
3 Kommentare
Ich arbeite seit Jahren mit den Testheften der ILeA und schätze die Grundkonzeption des PLT von Scheerer-Neumann und Schnitzler. Aber:
Als Sonderschullehrerin und ausgebildete Lerntherapeutin (BVL, FiL) bin ich es gewohnt, Tests selbst auszuwerten. Statt des aufwendigen Eingebens aller Items kann ich z.B. beim SLS (Salzburger Lesetest, verpflichtend an allen österreichischen Schulen) mithilfe einer Schablone wirklich schnell und unkompliziert ein Screening für die ganze Klasse auswerten.
Vorteile: Schnelle Datenerhebung, einmalige Anschaffungskosten, Daten bleiben bei mir im geschützten Raum.
PLT: Immer neue Kosten für die Testhefte + Auswertung, mühsames Übertragen aller Items, Daten liegen auf (welchen) Servern?
Liebe Frau Eich,
ergänzend zur Antwort von Frau Scheerer-Neumann möchten wir noch mittteilen, dass die Daten pseudonymisiert erhoben werden und auf Servern in Deutschland liegen, sie sind nach allen technischen Standards gesichert und der Datenschutz ist gewährleistet.
Beste Grüße
Nicole
Grundschul-Blog-Team
Liebe Frau Eich,
ich kann mir gut vorstellen, dass Sie – bei Ihrer Ausbildung und Erfahrung – den PLT lieber selbst auswerten möchten! Wahrscheinlich geht die reine Auszählung der bearbeiteten Testitems – und ggf. der Fehler und Auslassungen – mittels Schablone auch schneller als die Eingabe der einzelnen Markierungen in eine Maske, ABER: Bei der weiteren Auswertung wird der Mehraufwand mehr als wieder reingeholt! Anders als das Salzburger Lesescreening (SLS) umfasst der PLT zwei Untertests, neben dem Untertest zu basalen Lesefertigkeiten (WE) einen Untertest zum Leseverständnis (LV). Bei der Online-Auswertung werden berechnet und ausgegeben:
* Testwerte, T-Werte und die entsprechenden Prozentränge für beide Untertests
* Fehlerquotienten zu beiden Untertests und Vergleich mit „kritischen Werten“
* Vergleich der Testleistungen zwischen beiden Untertests
* ggf. Hinweise auf zusätzliche sinnvolle diagnostische Schritte („Vertiefende Diagnostik“)
*neben der individuellen Testwerte optional auch Klassenwerte
Alle Rechenschritte werden jeweils in Kap. 4 der PLT Hinweishefte erläutert.
Der PLT ist nicht nur für den Einsatz in der Lerntherapie gedacht, sondern ebenso zur Lernstandserhebung in ganzen Grundschulklassen – und 20-25 x alle Rechenschritte durchzugehen dürfte entschieden aufwendiger sein als die Eingabe der Markierungen! Zu bedenken ist hierbei auch, dass aufgrund des Geschwindigkeitscharakters – vor allem des Untertests WE – ja nur in den seltensten Fällen alle Testitems von den Schüler*innen bearbeitet und entsprechend eingegeben werden müssen!
Übrigens: Auch die Testhefte zum SLS gibt´s nicht kostenlos!
Freundliche Grüße,
Gerheid Scheerer-Neumann