6. März 2022
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Ist das fair? Mehrsprachige Lernende erhalten im PLT die gleichen Aufgaben wie einsprachige und die erzielten Punktwerte werden anhand gemeinsamer Normen einem Leistungsstand zugeordnet. Dabei wissen wir doch aus den großen Schulleistungsstudien, dass mehrsprachige Kinder und Jugendliche im Durchschnitt in Lesetests niedrigere Werte erreichen – selbst wenn sie in Deutschland geboren wurden. Was also rechtfertigt dieses Vorgehen?

Objektive Ermittlung des Leistungstands vs. differenzierte pädagogische Beurteilung

Trotz aller – durchaus erfolgreicher – Bemühungen um eine Binnendifferenzierung erfolgt der Deutschunterricht schon aufgrund der üblichen Klassengröße und der nur selten verfügbaren Doppelbesetzung in weiten Teilen nach wie vor „gleichschrittig“. Und – nicht weniger wichtig – nach dem Anfangsunterricht wird in schriftlichen Aufgaben im Sach- und im Mathematikunterricht weitgehend ein an die jeweiligen Klassenstufe angepasstes Leseverständnis vorausgesetzt.

Angesichts dieser Situation sieht der PLT seine Aufgabe in einem ersten Schritt darin, durch den Vergleich der erzielten Testwerte mit der Klassenstufennorm aufzuzeigen, ob ein Schüler oder eine Schülerin den täglichen schulischen Anforderungen beim Lesen gewachsen ist – oder ob zusätzliche didaktische Maßnahmen einzuplanen sind. Zusätzliche didaktische Maßnahmen können an den derzeitigen Lernstand angepasste Aufgaben und Übungen im Regelunterricht sein, aber auch additive Förderstunden. Ob der Schwerpunkt in diesen Förderstunden eher auf der Weiterentwicklung der Lesekompetenz oder der Sprachkompetenz im Deutschen – oder beidem – liegen sollte, muss in weiteren diagnostischen Schritten geklärt werden.

Die Leistungsermittlung im PLT beinhaltet also keine individuell differenzierte pädagogische Beurteilung; diese sollte zusätzlich die Lernausgangslage und die Lernentwicklung berücksichtigen, im Falle der Mehrsprachigkeit auch den Stand der sprachlichen Kompetenz im Deutschen. Diese Aspekte spielen in individuellen Rückmeldungen eine Rolle und gehen im Zeugnis in die verbale Beurteilung ein bzw. in eine die Zensur erläuternde Aussage.


Warum keine spezifischen Normen für mehrsprachig aufwachsende Schüler:innen?

Als Alternative zu gemeinsamen Normen könnten die Leseleistungen mehrsprachig aufwachsender Schüler:innen in einem Lesetest auch mit spezifischen Normen verglichen werden, die ausschließlich im Kontext von Mehrsprachigkeit erhoben wurden. Auf den ersten Blick erscheint die Anwendung solch spezifischer Normen fair, die didaktischen und pädagogischen Implikationen sind es jedoch weit weniger. Mehrsprachige Schüler:innen erhielten dann für die gleichen Testleistungen zwar höhere T-Werte und Prozentrangwerte, müssten bei gleichen Grenzwerten jedoch schlechtere Leseleistungen als die Einsprachigen erbringen, um eine Förderung zu erhalten! Plakativ formuliert: Niedrigere Leistungserwartungen an mehrsprachig aufwachsende Kinder wären festgeschrieben und ein Förderbedarf würde entsprechend weniger dringlich erscheinen. Dies widerspricht den oben beschriebenen gemeinsamen Leistungszielen und ist ein gewichtiges Argument auch im Hinblick auf die Vorbereitung für den Übergang auf eine weiterführende Schule.

Dagegen verfügt der PLT über zusätzlichen Normen, die bei einsprachig Deutsch aufwachsenden Kindern erhoben wurden. Warum? Hier geht es darum, basale Leseschwierigkeiten auch bei Lernenden zu erfassen, die Leseprobleme durch gute sprachliche Kompetenzen kompensieren können. Beim Vergleich mit der Gesamtnorm blieben diese Schwierigkeiten ggf. unentdeckt.


Mögliche Ursachen niedriger Testwerte im PLT bei Mehrsprachigkeit

Die folgende Abbildung, eine vereinfachte und etwas veränderte Darstellung des entsprechenden Modells aus Abb. 1.1 in den Hinweisheften zum PLT, zeigt kognitive Komponenten, die beim Bearbeiten von Aufgaben zum Worterkennen wie im PLT Untertest WE (gestrichelter Pfeil) und zum Leseverstehen wie im PLT Untertest LV (schwarze Pfeile) beteiligt sind. So banal es klingt, es wird deutlich, dass schon das Worterkennen – vor allem aber das Leseverstehen – nicht „sprachfrei“ zu ermitteln sind! Niedrige Testwerte im PLT können deshalb sowohl auf grundlegende Leseprobleme als auch auf unzureichende Sprachkenntnisse im Deutschen – oder auf beides – zurückzuführen sein.

Schema Leseverstehen im PLT

Die Aufgabe im PLT Untertest WE, in dem Tierwörter aus anderen Wörtern herauszufinden und anzukreuzen sind (detaillierte Erläuterung der Aufgabe im Blogbeitrag I zum PLT), erfordert sowohl das Dekodieren der Buchstabenfolgen als auch das Erkennen ihrer Bedeutung, setzt also Wortschatzkenntnisse im Deutschen voraus. Niedrige Testwerte können entsprechend sowohl durch fehlerhafte oder noch sehr langsame Prozesse beim Dekodieren verursacht sein als auch durch einen unzureichenden Wortschatz – oder durch beides. Zur Differenzierung der Ursache/n dient hier das zusätzliche Verfahren „Wörtertreppe“ aus der Vertiefenden Diagnostik des PLT, das primär das Dekodieren überprüft: In der Wörtertreppe müssen einzelne Wörter nur laut vorgelesen und nicht semantisch entschlüsselt werden; zusätzlich sind Pseudowörter zu lesen, die das Dekodieren in „Reinform“ erfassen. Gelingt das Dekodieren auch bei den komplexeren Wörtern und Pseudowörtern der Wörtertreppe, gibt es für niedrige Werte im PLT Untertest WE zwei mögliche Erklärungen: Bei einem niedrigen Fehlerquotienten im WE ist ein (noch) sehr langsames Lesetempo wahrscheinlich, bei einem hohen Fehlerquotienten liegen Wortschatzprobleme nahe. In solchen Fällen sollte über eine zusätzliche Sprachstandserhebung nachgedacht werden. In den PLT-Hinweisheften 1/2 und 3/4 (Kap. 6.5) stellen wir einige Verfahren zur Sprachstandserhebung vor. Besonders hilfreich ist die schulische Sprachdiagnostik, wenn die Testwerte eines Sprachtests durch informelle Beobachtungen ergänzt werden, die sich über Beobachtungsbögen systematisieren lassen (1, 2).

Eine Sprachstandserhebung sollte auch bei durchschnittlichen Ergebnissen im PLT Untertest WE bei gleichzeitig niedrigen Testwerten im PLT Untertest LV in Betracht gezogen werden, vor allem, wenn im LV gleichzeitig eine hohe Fehlerquote registriert wurde. Möglicherweise basiert die hohe Fehlerquote auf spezifischen sprachlichen Problemen wie der Unkenntnis der Bedeutung mancher Konjunktionen, Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Pronomen zum Bezugswort oder beim Erkennen von Passiv-Konstruktionen usw. Allerdings kann eine hohe Fehlerquote auch auf den Arbeitsstil eines Schülers oder einer Schülerin zurückzuführen sein: zu schnelles Arbeiten ohne ausreichende Überprüfung und Durchführung notwendiger Korrekturen. Ein solches „impulsives“ Verhalten zeigt sich zumeist auch in anderen schulischen Kontexten.

Noch ein Wort zu den beiden untersten „Kästchen“ im Modell: Textspezifische Vorkenntnisse und das allgemeine Weltwissen können in einem Leseverständnistest kaum außen vor bleiben. Wir haben das Thema Tiere gewählt, weil sich eigentlich alle Kinder im Grundschulalter – und Jungen wie Mädchen – gleichermaßen dafür interessieren. Zudem ergeben sich im Untertest LV die korrekten Alternativen zumeist unmittelbar aus dem vorgegebenen Kontext, z. B. im Text Seehunde (PLT 1, PLT 2, PLT 3):

_________________________________________wegen

Seehunde können ab dem ersten Tag schwimmen, obwohl  sie haben schon bei der Geburt ein Fell, das Wasser abweist.

_________________________________________denn

Allerdings gibt es durchaus auch Textlücken, deren Lösung ein basales – aber eben nur ein basales – biologisches Wissen fordert, z. B. im Text Pinguine (PLT 3, PLT 4) bei der Frage, welche Vögel außer Pinguinen nicht fliegen können. Hier werden als Alternativen vorgegeben: Papagei, Storch und Vogel Strauß. 

So viel zur Leistungsermittlung und zur „Spurensuche“ nach den Ursachen niedriger Leistungen im Potsdamer Lesetest bei mehrsprachig aufwachsenden Schülerinnen und Schülern. Mein nächster Blog-Beitrag wird sich mit den besonderen Anforderungen an die Leseförderung bei Mehrsprachigkeit befassen.

Gerheid Scheerer-Neumann

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Literatur

(1) Jeuk, S. & Schäfer, J. (2007): Beobachtung des Zweitspracherwerbs im Anfangsunterricht – Schwerpunkt Grammatik. Grundschule Deutsch, 14 (2), 38-39.
(2) Jeuk, S. (2021): Deutsch als Zweitsprache in der Schule: Grundlagen – Diagnostik – Förderung (Kap. 4.3.), 5. überarbeitete Auflage, Kohlhammer: Stuttgart.

PLT – Potsdamer Lesetest

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