17. Februar 2023
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Einige Daten und ihre lesedidaktischen Implikationen

Wer liest besser – Jungen oder Mädchen? Ich denke, die meisten von euch werden auf diese Frage mit „Mädchen“ antworten und – bezogen auf die durchschnittlichen Leseleistungen der Gesamtgruppe der Jungen und Mädchen – stimmt das auch. Nicht ganz so leicht zu beantworten sind weitere Fragen: Besteht dieser Unterschied schon in den ersten Klassen der Grundschule?

Falls nicht, ab wann ist er dann zu beobachten? Betrifft er gleichermaßen alle Aspekte des Lesens? Kennen wir die Ursachen der Leistungsdifferenzen? Und nicht zuletzt: Wie kann die Lesekompetenz der Jungen am besten gefördert werden? Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich auf die von uns mit dem Potsdamer Lesetest (PLT 1–4) erhobenen Daten zurückgreifen und auch auf die großen Schulleistungsstudien IGLU, PISA und den IQB-Bildungstrend.


Sind die Leistungsdifferenzen altersabhängig?

Fangen wir bei den „Kleinen“ an: Untersuchungen zu den sogenannten Vorläuferfertigkeiten des Schriftspracherwerbs wie der phonologischen Bewusstheit, die im Vorschuljahr erhoben wurden, zeigen tendenziell Vorteile für Mädchen, ebenso die schriftsprachlichen Vorkenntnisse, z. B. die Buchstabenkenntnis oder das Schreiben des eigenen Namens. Interessanterweise fanden wir jedoch in der Normierungsstudie zum PLT  in den ersten beiden Schuljahren keine signifikanten Unterschiede in den Lesekompetenzen zwischen Jungen und Mädchen.

Dies bedeutet, dass der Erstleseunterricht die geschlechtsbezogenen Unterschiede in den Vorläuferkompetenzen recht gut ausgleichen kann – mal eine gute Nachricht in einer Zeit, in der Schule ständig in der Kritik steht!  Allerdings wäre hier noch zu berücksichtigen, dass mehr Jungen als Mädchen vom Schulbesuch zurückgestellt werden…

Ab dem 3. Schuljahr zeigen unsere PLT-Daten bessere Leseleistungen der Mädchen, im 3. Schuljahr vor allem beim Leseverständnis, im 4. Schuljahr auch im Untertest Worterkennen. Das heißt, dass Jungen nun nicht nur beim Umgang mit Texten, sondern auch in den basalen Leseprozessen – hier vermutlich vor allem in der Geschwindigkeit und Automatisierung – in Rückstand geraten sind.

Die Differenzen zwischen den Geschlechtern sind insgesamt nicht als sehr groß einzustufen; aber übereinstimmend mit anderen Studien zeigen sie sich in unseren Daten besonders deutlich im untersten Leistungsbereich: Im PLT 3 Untertest Leseverständnis (LV) sind in dieser Gruppe 11,2 % der Mädchen, aber 22,6% der Jungen, beim PLT 4 LV sind es 12,8% vs. 20,8% (s. Abb. 1).

Prozentualer Anteil der Jungen und Mädchen in der untersten Leistungsgruppe im PLT Untertest zum Leseverständnis (PLT LV) nach Klassenstufen

Abb. 1: Prozentualer Anteil der Jungen und Mädchen in der untersten Leistungsgruppe im PLT Untertest zum Leseverständnis (PLT LV) nach Klassenstufen (Daten aus der PLT Normierungsstudie)

Umgekehrt sind die Mädchen in der obersten Leistungsgruppe überrepräsentiert, allerdings in geringerem Ausmaß (vgl. Abb. 2).

Die Ergebnisse aus den IGLU Studien und dem IQB-Bildungstrend, die die Lesekompetenz bei Schülerinnen und Schülern des 4. Schuljahrs untersuchen, bestätigen den relativ höheren Anteil von Jungen mit Leseproblemen im Vergleich zu Mädchen; im IQB Bildungstrend von 2021 verfehlten 16% der Mädchen, aber 22% der Jungen den Mindeststandard im Lesen.

Den Optimalstandard erreichten 9% der Mädchen und 6% der Jungen. Und die Schere öffnet sich weiter: Die Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen Mädchen und Jungen (Effektstärke) sind bei 15-Jährigen größer als bei Viertklässlern. Die letzte PISA-Erhebung von 2018 ergab allerdings einen geringeren Leistungsabstand im Vergleich zu den vorangegangen Erhebungen; man wird sehen müssen, ob es sich hier um einen Trend handelt.

Diagramm lesen Jungen/Mädchen

Abb. 2: Prozentualer Anteil der Jungen und Mädchen in der obersten Leistungsgruppe im PLT Untertest zum Leseverständnis (PLT LV) nach Klassenstufen (Daten aus der PLT Normierungsstudie)


Wie sind die Leistungsunterschiede zu erklären?

Die Entwicklungspsychologie sieht allgemein zwei Faktoren zur Erklärung von geschlechtsspezifischen Unterschieden: Einen biologischen, der die spätere neurale Reifung bei Jungen im Blick hat und z. B. die etwas langsamere Sprachentwicklung erklären kann und einen sozialpsychologischen, hier bezogen auf die Übernahme von Geschlechterrollen: Lesevorbilder sind in der Kindheit zumeist weiblich und das Bücherlesen als Freizeitbeschäftigung wird eher Mädchen als Jungen zugeordnet – Faktoren, die die Entwicklung der Lesemotivation und des Leseverhaltens beeinflussen.

Für die höhere Lesekompetenz der Mädchen in den oberen Klassen der Grundschule sind wohl tatsächlich vor allem eine höhere Lesemotivation und häufigeres Lesen in der Freizeit verantwortlich. Unter statistischer Kontrolle dieser Variablen (und auch des Leseselbstkonzepts, bei dem es zwischen den Geschlechtern allerdings nur geringe Unterschiede gab) „verschwanden“ in den IGLU-Daten von 2016 die geschlechtsbezogenen Unterschiede.


Fördern der Lesekompetenz

Ohne Zweifel muss die Leseförderung die Lesemotivation im Blick haben. Solange Lesen jedoch noch nicht automatisiert ist (oder es sogar noch basale Leseprobleme gibt), wird es vom Kind als anstrengend empfunden und möglichst vermieden; damit fehlt die für eine gelingende Automatisierung notwendige Übung – ein Teufelskreis! Die Förderung muss deshalb mehrgleisig erfolgen (vgl. auch Kap. 7 im Handbuch zum PLT und mein Blogbeitrag IV zum PLT):

Förderung der Lesemotivation

Zur Förderung der Lesemotivation sollte bei der Auswahl der Lektüre auf die Interessen eines Kindes (oder eines „Lese-Tandems“) geachtet werden:

Bei Jungen sind dies oft Krimis, Abenteuergeschichten, Sachtexte zu ausgewählten Themen, usw. Besonders wichtig ist jedoch, dass der ausgewählte Text vom Kind wirklich zu bewältigen ist: Auch der interessanteste Text verliert seinen Reiz, wenn er nicht ausreichend verstanden wird! Umgekehrt erhöht der erlebte Erfolg („Ich schaffe das! Ich kann das lesen!“) die Lesemotivation.  

Die Anpassung der Textschwierigkeit an die Lesekompetenz des Kindes (Satzlänge, Wortlänge, Worthäufigkeit) ist deshalb von entscheidender Bedeutung bei der Textwahl. Texte sollten auch entweder recht kurz oder gut „portionierbar“ sein; als kürzere Texte bieten sich Artikel aus Kindermagazinen an. Die Regenbogen-Lesekiste II (Scheerer-Neumann et al. 2009) enthält neben erzählenden Texten auch leicht lesbare Sachtexte.

Diese Maßnahmen helfen bei der Entwicklung der intrinsischen Lesemotivation; daneben ist die extrinische Motivierung (positive Rückmeldung durch die Lehrkraft, Punkte im Lesepass, Lese-Diplom…) gerade bei sehr Leseschwachen eine wichtige Stütze zum Durchhalten.


Förderung des basalen Lesens

Grundlage erfolgreichen Lesens ist das basale Lesen, das Dekodieren auf Wortebene, das auch in den höheren Klassen der Grundschule noch beeinträchtigt sein kann. Eine entsprechende Diagnostik ist z. B. mit dem PLT WE und der PLT Wörtertreppe möglich. Ggf. sollten Übungen z. B. zum Segmentieren längerer Wörter in Silben- und Morpheme durchgeführt werden (z. B. Ritter & Scheerer-Neumann 2009). Weiterhin zu ermitteln ist die Lesegeschwindigkeit;  bei noch sehr langsamem Lesetempo helfen u.a. Übungen zum schnelleren Erkennen einzelner häufiger Wörter (z. B. Pronomen, Hilfsverben).

Strategien beim Textlesen

Lesestrategien, wie Fragen an einen Text stellen oder Vorwissen aktivieren sind wichtige Hilfen zum Leseverständnis und werden auch im regulären Leseunterricht vermittelt. Langsamer lesen lernende Kinder sind womöglich zum Zeitpunkt der Einführung der Lesestrategien im Klassenverband überfordert: Wer aufgrund eines langsamen Dekodierens noch Probleme hat, die Struktur eines Satzes zu überschauen, wird nicht gleichzeitig an die zuvor gestellten Fragen denken können! Lesestrategien sollten deshalb im Unterricht wiederholt thematisiert werden.

IGLU 2016 ergab einen größeren Nachteil der Jungen im Leseverstehen bei erzählenden Texten („literarische“ Texte) im Vergleich zu Sachtexten. Eine wichtige Lesestrategie zum besseren Verständnis erzählender Texte, die vermittelt und eingeübt werden sollte, ist die die Nutzung einer Geschichten-Grammatik (story grammar).

Natürlich gelten alle diese Vorschläge prinzipiell auch für Mädchen; aber offenbar ist zumindest ein Teil der Mädchen besser als Jungen dazu in der Lage, anfängliche Leseprobleme zu überwinden.


Literatur

Hußmann, A., Wendt, H., Bos, W. et al. (Hrsg.) (2017). IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.
Reiss, K., Weis, M., Klieme, E. u. a. (Hrsg.) (2019). PISA 2018. Grundbildung im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.
Ritter, Ch. & Scheerer-Neumann, G. (2009). PotsBlitz. Das Potsdamer Lesetraining. Förderung der basalen Lesefähigkeit. Köln: Prolog.Scheerer-Neumann, G., Scheerer-Neumann, G., Kretschmann, R. u.a. (2010): Regenbogen-Lesekiste II. Stuttgart: Ernst Klett Verlag/vpm (verlag für pädagogischen medien)
Schnitzler, C. & Scheerer-Neumann, G. (2022). PLT 1-4. Potsdamer Leseheft Handbuch. Stuttgart usw.: Klett Verlag.
Stanat, P., Schipolpwski, S., Schneider, R. et al. (Hrsg.) 2022. IQB-Bildungstrend 2021. Münster: Waxmann.
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